Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
um keine mitleidigen Blicke oder sogar Hilfsangebote zu ernten. Ich wollte nicht schon wieder vor anderen in Tränen ausbrechen. In den eineinhalb Stunden bis Sahagún waren in meinem Kopf entweder völlige Leere oder eine Gemengelage von Satzfetzen. »Ja, nein, was dann, was nur, ja, weitergehen, nein, nein, vernünftig sein, aufhören, auf keinen Fall, ich will nach Santiago, nach Hause fahren, bist du bescheuert, jetzt aufgeben, kommt nicht in Frage, aber mein Bein, Scheißbein, komm, geht noch, schaffst du, ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr, doch, weiter, neeiiiiin, jjjaaaa, neeiiiin, jjaaaaa.« Es war eine einzige Quälerei, nicht nur für meinen Körper, auch für meinen Geist.
Endlich dann die Stadt. Ich traute meinen Augen nicht, nach ungefähr 500 Metern sah ich auf einmal auf der linken Seite hinter einem Zaun und Gleisen gelegen den Bahnhof von Sahagún. In keiner der bisherigen Städte waren mir die Bahnhöfe aufgefallen, doch jetzt schien er mir zu sagen: »Komm, Sabine.« Auf einmal wusste ich, was für mich jetzt das einzig Richtige war. Mein Entschluss stand fest. Ich würde mit dem Zug nach León fahren, dort zum Arzt gehen und wenn ich pausieren müsste, würde ich in dieser schönen Stadt auf jeden Fall besser aufgehoben sein als in Sahagún. Der Bahnhof an dieser Stelle war eindeutig ein Zeichen für mich gewesen. Doch zunächst wanderte ich weiter in die Stadt, da war nämlich ein kleines Teufelchen in meinem Nacken, das flüsterte mir zu: »Du willst einfach 55 Kilometer mit dem Zug fahren? Ein richtiger Pilger macht das nicht. Du wolltest doch die ganze Strecke laufen und nicht den bequemen Weg gehen. Wenn du schon Pause machen willst, bleib wenigstens hier.« Die Herberge war in einer ehemaligen Kirche untergebracht und lag nicht weit vom Bahnhof entfernt, anschauen konnte ich sie mir ja mal. Sie war geschlossen und sollte erst wieder um zwölf Uhr öffnen. Aus einer Kirche nebenan hörte ich auf einmal Orgelmusik, die Tür dort stand offen. Dorthin lenkte ich nun meine Schritte und nahm einfach an der Messe, die bereits längst angefangen hatte, teil. Ich war noch rechtzeitig zur Kommunion gekommen. Ich kam durch die gewohnten Rituale endlich zur Ruhe, auch mein »Teufelchen« ließ mich nun in Frieden. Trotzdem machte ich mich auch nach dem Ende des Gottesdienstes nicht in Richtung Bahnhof auf, sondern kehrte erst einmal wieder in einer Bar ein. Ich saß ein wenig in der Sonne, zog meinen Schuh aus, legte mein Bein hoch und versuchte weiterhin eine gute Balance in meinem Inneren zu finden. Zwei Belgierinnen, die ebenfalls im vorherigen Refugio übernachtet hatten, waren auch eingekehrt und befanden sich schon wieder im Aufbruch. Sie erkundigten sich nach mir und wie in San Nicolás kullerten sofort die Tränen über mein Gesicht. Sobald ich Zuwendung erfuhr, war es um meine Beherrschung geschehen. Im gleichen Moment tauchte auch noch Rudi auf. Warum musste er immer aufkreuzen, wenn ich wie ein Häufchen Elend nicht mehr weiter konnte? Zu allem Überfluss meinte er: »Du musst langsamer gehen, du bist viel zu schnell unterwegs. Das musst du wohl noch lernen.« Ich hätte ihn erwürgen können. Die Belgierinnen redeten mir gut zu, ich solle auf jeden Fall das Bein schonen und eine Pause einlegen. Mit guten Wünschen verabschiedeten sie sich. Ich rang immer noch mit mir, so richtig entschlossen war ich nicht. Beim Bezahlen nur einige Minuten später fragte ich die Kellnerin, ob sie wüsste, wann und wie oft die Züge nach León fahren würden. Mein Unterbewusstsein hatte scheinbar die Führung übernommen. Sie antwortete: »Ich bin mir nicht sicher, wie oft die Züge fahren, aber in 20 Minuten fährt ganz sicher der nächste Zug. Wenn sie sich beeilen, schaffen sie ihn noch.« Ich überlegte gar nicht länger, auf einmal handelte ich nur noch. In Windeseile war mein Rucksack geschultert und ich trabte mit zusammengebissenen Zähnen Richtung Bahnhof. Als ich dort ankam, traute ich meinen Augen kaum. Gabriella stand auf dem Bahnsteig! Wir umarmten uns und freuten uns über unser schnelles Wiedersehen, auch wenn die Umstände nicht so angenehm waren. Gabriella erzählte mir mit traurigem Blick: »Heute Morgen habe ich versucht meine Schuhe anzuziehen, dabei habe ich meine Zähne so zusammenbeißen müssen. Ich fahre jetzt besser nach Hause, nächstes Jahr werde ich dann zurückkehren, um den Weg fortzusetzen. Alles andere wäre unvernünftig.« Dann strahlte sie mich an und meinte: »Ich
Weitere Kostenlose Bücher