Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
liegen. Ich hatte sie bisher immer ein wenig abweisend gefunden, aber mein erster Eindruck war eindeutig falsch. Sie waren nur ein wenig zurückhaltend mit Kontakten und genügten sich einfach selbst.
Nach 16 Uhr kam dann auch noch die kleine Ute in Begleitung von Norbert, einem Belgier, der bestimmt schon über 65 Jahre alt war, in den Innenhof spaziert. Wo war die große Ute abgeblieben? Sie waren doch sonst immer im Doppelpack. Wie ich erfuhr, hatten sie sich bereits vor anderthalb Tagen getrennt, weil die große Ute immer mehr wegen ihrer Blasen gehadert hatte und die kleine sich dadurch beeinträchtigt gefühlt hatte. Sie waren aber noch in SMS-Kontakt, deshalb wusste die Kleine zu berichten, dass die Große mittlerweile León per Zug ebenfalls erreicht hatte. Ich empfand diese Weggemeinschaft als genauso erstaunlich wie ungewöhnlich. Zwei sich vorher gänzlich unbekannte Menschen waren plötzlich wie ein eingeschworenes Team unterwegs. So viel Nähe, die auch sehr viel Rücksichtnahme verlangt, wäre ich nur bereit zuzulassen bei Personen, die mich auch in meinem alltäglichen Leben begleiten.
Ute und ich blieben den Rest des Tages zusammen. Ich begleitete sie in die Kathedrale, da ich unbedingt nochmals die grandiosen Fenster in ihrer Wirkung durch die Abendsonne sehen wollte. Dieses Mal waren sie ebenfalls eindrucksvoll, wenn auch ganz anders als am Morgen. Jetzt hatte ich den Eindruck, dass die roten Glaselemente stärker dominierten und die Kirche eher in ein mystischeres Licht tauchte. Bei meinem ersten Besuch hatte ich noch nicht registriert, dass die Kathedrale eine zusätzliche Besonderheit barg. In einer der vielen Seitenkapelle stand die Statue einer schwangeren Muttergottes, der Virgen de la Esperanza, der Jungfrau der Hoffnung. Worauf sich die Hoffnung bezieht, weiß ich allerdings nicht. Auf die »gute Hoffnung«, in der Maria ist, oder die Hoffnung, die man seit Jahrhunderten an sie heranträgt? Jedenfalls entschied ich mich dafür, meine größte Hoffnung als Gebet vor die Muttergottes zu bringen, vielleicht war es ein gutes Omen für mich. Mit meinen 41 Jahren hegte ich immer noch den Wunsch Mutter zu werden, irgendwann wie meine Schwestern und Freundinnen auch so ein kleines Bündel Mensch in den Armen zu halten. Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, war dies ein weiterer, wenn nicht einer der wichtigsten Gründe gewesen, mich auf den Pilgerweg zu begeben.
Am Abend hatten sich die beiden Ute mit drei Herren, die sie in Sahagún kennen gelernt hatten, verabredet. Norbert und ich begleiteten Ute zu dem Hostal, in dem die große Ute wie auch die Männer abgestiegen waren. Ich war neugierig, denn die drei sollten aus dem Münsterland kommen. Tatsächlich stammten Alfons, Rainer und Reiner, wieder ein Paar mit Namensgleichheit, aus dem idyllischen Billerbeck. Obwohl wir in einem grottenschlechten Restaurant landeten, hatten wir an diesem Abend sehr viel Spaß. Der trockene münsterländische Humor sowie das rollende »r« erinnerten mich an Zuhause.
Knapp drei Tage hatte ich nun in León verbracht. Wie ein vollgepackter Koffer waren sie angefüllt mit wunderbaren Erlebnissen, schönen und berührenden Begegnungen, vielen guten Unterredungen und entspannenden Plaudereien. Wir hatten viel gelacht und untereinander gefrotzelt. Daneben hatte ich auch Ruhe für meinen Körper und Muße für meinen Geist gefunden, ebenso hatte ich Zwiesprache mit mir selbst halten können. Die Tage waren leicht und unbeschwert. Gerne wollte ich am nächsten Morgen wieder losgehen, doch die anfängliche Unruhe darüber, ob dies möglich sei, hatte sich bei mir mehr und mehr gelegt. Der Camino besteht nicht nur aus Wandern und Laufen. Unterwegs sein, das ist man auf sehr verschiedene Weise. Die Suche nach dem eigenen Ich, ein Finden zu sich selbst, ein Sich-Öffnen, um auch die Fähigkeit zur Hingabe an die Mitmenschen zu entdecken, das hatte ich in den letzten Tagen sehr deutlich erfahren dürfen - nicht nur im Gehen, sondern auch im Bleiben und Ruhen.
21. und 22. Pilgertag, 12.-13. Juni 2006
León - Hospital de Órbigo - Astorga
Der Verband war ab! Mein Bein war komplett abgeschwollen, nur die Muskulatur war noch etwas hart. Ich musste dem Arzt zwar versprechen, mich keinem Gewaltmarsch auszusetzen, aber ich hatte die Erlaubnis weiterzupilgern. Bereits am Tag zuvor hatte ich den Entschluss gefasst, zunächst den Bus zu nehmen. Ich war sicher, nicht vor elf Uhr León verlassen zu können, so dass ich in
Weitere Kostenlose Bücher