Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
das Beste für unser Leben wünschten, meinte sie zu mir: »Finde heraus, wer du wirklich bist, Sabine. Denn nur wenn du weißt, wer du bist und dich auch mit allen deinen Facetten selbst lieben kannst, nur dann kannst du auch von anderen geliebt werden. Es ist ebenso eine Voraussetzung, wenn du anderen Menschen helfen willst.«
Sehr nachdenklich lief ich in Richtung Kathedrale. Mich beschäftigte die Frage, wieso ich mit Myrna zusammengetroffen war. Reiner Zufall oder Schicksalsfügung? War der Morgen mit ihr ein weiterer Mosaikstein im bunten Bild meines Lebens? Ich brauchte nun eine Atempause und hoffte in der Kirche Ruhe zu finden. Davor traf ich Elvira und Martin, das Paar aus dem Aschaffenburger Raum, wieder. Wir begrüßten uns herzlich und mit Blick auf mein bandagiertes Bein meinte Martin: »Wir haben uns schon gefragt, wo du abgeblieben bist.« Sie wollten ebenfalls in der Herberge der Benediktinerinnen nächtigen. Schön, dass ich den beiden abermals begegnete.
Die Kathedrale von León - beeindruckend schön
Als ich die Kathedrale betrat, verschlug es mir den Atem. Dieser prachtvolle, weitestgehend stilreine gotische Bau mit dem imposanten Turm-Doppel und den kunstvollen schmiedeeisernen Gittern ringsherum gefiel mir schon von außen in besonderer Weise, jetzt war ich einfach nur überwältigt! Mehr als 1800 Quadratmeter Glasfensterpracht schimmerte im Inneren in vielerlei Farbtönen. Gerade brach sich die Morgensonne durch einige Fenster ihren Weg und tauchte den Innenraum der Kathedrale in überwiegend blaues Licht. Die beiden Rosettenfenster, die sich im Mittelportikus gegenüberlagen, waren besonders beeindruckend und schön. Dazu kamen die vielen Bildhauerarbeiten, innen wie außen, die durch liebevolle Details überzeugten. In einer Seitenkapelle begann gerade ein Sonntagsgottesdienst, der zu dieser relativ frühen Stunde nur wenig besucht war. Wie immer verstand ich fast nichts, aber der mir wohlvertraute Ritus band mich selbstverständlich ein. Es war sehr feierlich, ein einzelner Tenor begleitete die Messe. Sein Gesang hatte etwas Sphärisches und Tröstendes. Ich empfand ein Gefühl des Heimkehrens und des Willkommens. Meine Gedanken schweiften zwischendurch ab. Nochmals befasste ich mich mit den morgendlichen Begegnungen. Gerade hatte ich eine wunderbare Frau verabschiedet und schon traf ich eine andere Persönlichkeit. Woran lag es, dass ich so leicht mit Menschen in Kontakt kam? Waren die anderen neugierig auf mich oder nahmen sie mein Interesse an ihnen wahr? Oder war es im Fall von Myrna nur das gemeinsame verbindende Element der Krankheit gewesen, dass sie sich zu mir gesetzt hatte? Vielleicht war es auch die Summe aller Möglichkeiten. Meiner Meinung nach gibt es nicht nur die eine Wahrheit, die genau zutrifft. In meinem Kopf spukte außerdem noch die Frage: Was ist, wenn ich morgen nicht weiterlaufen darf? Die Situation so anzunehmen, wie sie kommt, fiel mir nach wie vor schwer. Ich schob den Gedanken daran ganz weit weg.
Den restlichen Tag wollte ich wie den vorherigen im Innenhof verbringen, mein Bein hochlegen, die Neuankömmlinge beobachten und viele gute Gespräche führen. Ich war gespannt, wer an diesem Tag eintreffen würde. Wie viele würde ich diesmal unter ihnen kennen? Es waren tatsächlich so viele, dass mir die Erklärungen zu meinem Verband irgendwann zum Hals heraushingen. Ich hatte schon Fusseln am Mund, obwohl es alle gut mit mir meinten. Sie waren besorgt und fürsorglich zu mir. Es war mir aber eben auch ein wenig peinlich, so im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Wie bereits erwähnt waren Martin und Elvira da, Elisabeth, die ältere Dame aus München, wie auch die zwei netten Belgierinnen. Die Franzosenclique von Henri, der mich im Zug hierher begleitet hatte und dem es schon viel besser ging, war ebenfalls eingetroffen. Die kleine, drahtige Patricia und ihr schnauzbärtiger Mann Michel waren auch darunter. Patricia humpelte stark, ihre beiden Füße waren blasenübersät und schienen entzündet. Sie lachte aber nur, wiegelte ab und meinte lapidar: »C'est la vie!« Michel schüttelte nur den Kopf. Zwischen den beiden schien die Harmonie offensichtlich immer mehr flöten zu gehen, je länger der Weg andauerte. Ein Schweizer Ehepaar, das mir schon oft aufgefallen war, lernte ich durch Martin im Innenhof etwas näher kennen. Sylvia und Peter sahen mindestens fünf Jahre jünger aus als sie waren. Es muss einfach an der guten Milch der Schweizer Kühe
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