Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
Termin war noch frei. Ich wurde mit einer herrlichen Rückenmassage verwöhnt. So daliegend gingen mir abermals die Pilger der früheren Jahrhunderte durch den Kopf. Sie hatten keinen Bus, der sie weitertransportierte, wenn sie Blessuren hatten, von einem mobilen Massageservice ganz zu schweigen. In den historischen Pilgerspitälern, den hospitales de peregrinos, wurden die Pilger der vergangenen Zeiten gepflegt und wieder aufgepäppelt. Das Wegenetz war um ein Vielfaches beschwerlicher als heute, in ihrer damaligen Kleidung waren sie der Witterung deutlich schutzloser ausgesetzt als wir und ich glaube nicht, dass sie in ihren dreckigen und zerlumpten Sachen je eine Mitfahrgelegenheit in einer Kutsche bekommen haben. Gab es zu der Zeit überhaupt schon Kutschen oder Ähnliches? Ihre Wunden und Schmerzen, verursacht durch das Pilgern, waren nicht mit einer Wohlfühlmassage zu beseitigen. Ihre Wunden wurden gesäubert und mit alten Hausmitteln desinfiziert. Würden wir Menschen von heute überhaupt noch die Fähigkeit besitzen, solche Strapazen zu meistern?
Die Küche war rappelvoll, als wir das Abendessen zubereiteten. Viele hatte ich auf dem Weg noch nie gesehen. Es ging laut und lustig zu. Die unterschiedlichsten Gerüche waberten durch den Raum. Jede Menge Knoblauch war zu identifizieren. Unser Essen war fürstlich, sehr vitaminreich und fleischlos, Gisela war Vegetarierin. Als Vorspeise gab es Salat, dann Gemüseratatouille und als Nachtisch Obstsalat und Schokolade. Ein Vino tinto rundete alles ab. Daniel, ein Schweizer mit brasilianischen Wurzeln, den Ute und ich das eine oder andere Mal bereits gesehen hatten, aß ebenfalls mit uns. Wir hatten eine lockere, ungezwungene und zufriedene Tischrunde. Von Daniel erfuhren wir, dass er schon in Rente war und bereits von der Schweiz aus unterwegs war. Gisela und er gehörten zu den schnellen Pilgern, Strecken von 30 bis 40 Kilometern am Tag waren für beide keine Seltenheit. Gisela war auch schon nachts gelaufen. Sie machte auf mich einen sehr naturverbundenen und unerschrockenen Eindruck. Zu Hause wartete eine große Familie auf sie. Eine Powerfrau!
Nach dem Essen musste ich noch einmal an die frische Luft. Mein Körper sehnte sich nach Bewegung. Die letzten Tage ohne die Anstrengung des Wanderns und das Draußen-Sein fehlten mir. Mit Gisela und Daniel machte ich noch einen ausgiebigen Spaziergang. Am Nachmittag hatte es kräftig gewittert, jetzt war die Luft frisch und klar. Wir liefen durch die kleine Stadt in Richtung der imposanten Brücke, die sich über den Río Órbigo spannte. Sie hat zwanzig Bögen und ist damit die längste Brücke am gesamten Jakobsweg. Der Fluss ist natürlich nicht so breit wie die gesamte Brücke, ein weitläufiges Feld wird ebenso überspannt. Dort waren vom letzten Wochenende noch die Zelte und Banner der alljährlich stattfindenden Mittelalterspiele aufgebaut. Sie werden veranstaltet in Erinnerung an den Paso honroso mit Ritterturnieren und Mittelaltermarkt. Der Paso honroso erinnert an den tapferen, wenn auch schon damals etwas unzeitgemäßen Lanzenkampf des Ritters Suero de Quinones. Im Heiligen Jahr 1434 gelobte der Edelmann, 15 Tage vor und nach dem 25. Juli, dem Tag Santiagos, mit neun Gefährten gegen jeden über die Brücke kommenden Ritter zu kämpfen. Durch die edle Tat wollte er sich von der Halsfessel befreien, die er jeden Donnerstag als Zeichen seiner unglücklichen Liebe für eine Edeldame anlegte. Zahllose Ritter eilten in den Ort. Im damals überwiegend befriedeten Spanien waren die Gelegenheiten, sich im Kampf zu erproben, rar geworden. Don Suero und seine Freunde besiegten 166 Ritter, der junge Mann war damit von seiner Liebesfessel befreit. Es war seltsam sich vorzustellen, dass man an der gleichen Stelle stand wie einst diese Ritter. Ob zu der Zeit auch schon so viele Störche hier am Fluss nisteten und auf Froschfang gingen? Ob damals schon dieses Wäldchen stand, in dem die Bäume in Reih und Glied schnurgerade gepflanzt waren? Bestimmt nicht, sie sahen jünger aus als über 500 Jahre alte Bäume. Der von Menschenhand gepflanzten Ordnung hatten sie jedenfalls durch Einfluss von Wind und Wetter getrotzt. Sie standen völlig windschief in dieser Ebene und boten einen bizarren Anblick.
Vor dem Schlafgehen setzte ich mich nochmals zu Ute, die emotional sichtlich angeschlagen war. Sie musste wohl einen weiteren Tag pausieren. Es tat mir leid, obwohl mich ihr Hadern mit der Situation, ohne dass sie bereit war,
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