Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
besonders verschlossen gewesen, aber das war auch für mich neu. Ihre Fragen waren wie Schleusentore, die geöffnet wurden. Sie brachten mich zum Nachdenken und in meinen Antworten reflektierte ich die vergangene Zeit. Myrna war aus Kanada und arbeitete dort als selbstständige Gesprächstherapeutin. Sie war ebenfalls als Pilgerin gekommen und nicht als normale Touristin. Sie wollte eine Antwort finden, warum die Einsamkeit in ihrem Leben eine so große Rolle spielte. Bei ihrer Arbeit war sie in Kontakt mit anderen Menschen, aber in ihrem privaten Umfeld war sie weitgehend kontaktlos. Ihre Antwort hatte sie bereits gefunden und sie begann, mir von ihrer bemerkenswerten Geschichte zu erzählen. Sie war in Burgos gestartet und hatte sehr schnell ein amerikanisches Paar kennen gelernt, mit dem sie sich gut verstand. Während der ersten Tage ließ sie ständig irgendetwas liegen, mal den Wanderstock, mal ihren Hut und jedes Mal sorgte das Paar dafür, dass sie es wiederbekam. Myrna war es zunehmend unangenehm, doch die Amerikaner fanden es selbstverständlich, sie im Blick zu haben und sich, um sie zu kümmern. Irgendwann meinten die beiden sogar zu ihr: »Myrna, wann lernst du endlich, Hilfe anzunehmen und dich darüber zu freuen, wenn andere dich im Blick haben?« Zu diesem Zeitpunkt habe sie noch nicht begriffen, welchen tieferen Sinn diese Frage für sie bereithielt. Bei Beginn ihrer Reise hatte sie bereits leichte Bauchschmerzen verspürt, die mit jedem Tag schlimmer geworden waren. In Sahagún wurden sie unerträglich und wieder waren die amerikanischen Freunde zur Stelle, die sie zum Arzt begleiteten. Mit einer akuten Blinddarmentzündung wurde sie dann auf schnellstem Weg nach León transportiert und sofort operiert. Myrna schilderte, wie mutterseelenallein sie sich gefühlt hatte. Weder in Sahagún noch in León sprachen die Ärzte so Englisch, dass sie überhaupt verstand, was mit ihr geschah. Sie konnte außer dem obligatorischen Pilgerspanisch kein weiteres Wort Spanisch, also musste sie allen blind vertrauen. Erst in León gab es eine junge Krankenschwester, die übersetzen konnte. Diese junge Frau kam nun täglich an ihr Bett, um sie aufzumuntern und ihr Mut zu zusprechen. Die Familienmitglieder der im Nachbarbett liegenden Frau bezogen Myrna bei all ihren Besuchen mit ein, ganz egal, ob sie wollte oder nicht. Mit Händen und Füßen redeten sie auf sie ein, brachten ihr auch kleine Geschenke mit und versuchten sie zum Lachen zu bringen. Nach einigen Tagen sollte Myrna entlassen werden, durfte aber nur auf eigenes Risiko sofort nach Hause fliegen, denn mit frisch operierter Narbe schien ein Überseeflug kritisch. Statt in ein Hotel gehen zu müssen, bot die Krankenschwester ihr an, bis zu ihrem Rückflug bei ihr und ihrer Familie zu wohnen. Myrna sagte, dass sie zunächst den Impuls gehabt habe, abzulehnen, doch im Krankenhaus und auch auf dem Weg zuvor habe sie etwas Wichtiges für sich realisiert. Ihr sei klar geworden, dass sie auch deshalb einsam gewesen sei, weil sie anderen Menschen gar keine Chance gelassen habe, Teil ihres Lebens zu werden oder zu sein. Hilfe oder Zuwendung anzunehmen, ohne dafür direkt eine Gegenleistung zu erbringen, sei bis dahin etwas vollkommen Fremdes für sie gewesen. Hier in Spanien konnte sie in ihrer Hilflosigkeit erleben, wie wunderbar es war, Hilfe, Zuwendung und letztendlich auch Zuneigung annehmen zu können. Myrna schloss ihre Erzählung mit einem Lächeln auf ihrem Gesicht und den Worten: »Ich wollte wissen, warum die Einsamkeit in meinem Leben war, jetzt weiß ich die Antwort und bin mir sicher, in Zukunft nie wieder einsam zu sein. Morgen fliege ich nach Hause, ich brauche nicht mehr an das Grab des heiligen Jakobus zu pilgern, Gott hat mir schon vorher das gegeben, was ich mir erhofft habe.« Ich hatte schon vorher wie gebannt zugehört, nun zog sich eine Gänsehaut über meinen Rücken. Auf meine Frage, warum sie mir ihre ganze Geschichte erzählt hatte, antwortete sie: »Du sahst so verletzlich aus, als ich hier hereinkam. Nicht wegen deinem Bein, sondern auf deinem Gesicht spiegelte sich etwas, was mich neugierig machte. Auch warst du auf meine Fragen hin offen und hattest keine Scheu etwas von dir preiszugeben.« Wir saßen noch eine Weile zusammen und redeten über meine privaten und noch wenig konkreten beruflichen Lebensziele. Myrna war eine interessante und interessierte Gesprächspartnerin, die Zeit verging wie im Flug. Als wir uns am Ende gegenseitig
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