Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
dem Maciej und ich untergebracht waren, lagen noch vier weitere Pilger, es herrschte drangvolle Enge. Zudem herrschte eine Bruthitze darin, denn eigentlich war es kein Zimmer, sondern ein Wintergarten, der zu einem Schlafraum umfunktioniert war. Die vier anderen Pilger waren Franzosen und so wie sie sich verhielten, schienen sie dem mir auf dem Pilgerweg oft begegneten Vorurteil, dass Franzosen grundsätzlich rücksichtsloser als andere seien, alle Ehre zu machen. Sie hatten sich ziemlich breitgemacht, überall war ihre Wäsche verteilt. Einer von ihnen schien ein starker Raucher zu sein, der ganze Raum roch penetrant nach Tabak. Ich mochte gar nicht an die Nacht denken. Maciej und ich flüchteten ins Freie. Die Herberge hatte einen wunderbaren Garten, besser gesagt eine Wiese. Sie war umrandet von mächtigen Bäumen, deren Zweige sich durch den auffrischenden Wind hin und her bewegten. Die Wiese lag auf einer Anhöhe, von der man einen prächtigen Blick auf die gegenüberliegende Hügelseite hatte. Wir lagen in der Sonne und faulenzten. Mittlerweile hatten sich auch Katrin und Marcello sowie Graham und Peter zu uns gesellt. Galicische Musik klang aus einer Lautsprecherbox quer über die ganze Fläche zu uns herüber. Eine heitere, gelockerte Stimmung erfasste uns. Wir lachten viel, scherzten und alberten herum. Wann hatte ich zum letzten Mal so einen Nachmittag erlebt? Es war Ewigkeiten her. Nie hatte die Zeit gereicht, außer im Urlaub vielleicht, einfach nur stundenlang dazuliegen und sich um nichts Sorgen machen zu müssen. Nicht daran zu denken, was alles noch zu erledigen oder vielleicht sogar liegen geblieben war. Wie gerne hätte ich diese Stimmung mit Gu geteilt. Ich rief ihn an, um wenigstens seine Stimme zu hören und ihm zu sagen, wie sehr er mir gerade fehlte. Ich war nicht nur deshalb so sentimental. Ich fühlte mich zwar mit den anderen sehr wohl und ich denke, sie auch mit mir, aber ich war älter als sie und ich spürte dies besonders, wenn wir bestimmte Themen streiften. Außerdem befand ich mich in einer komplett anderen Lebenssituation. Sie waren fast alle noch unter dreißig und bis auf Graham bauten sie sich ihr Leben gerade auf oder sie waren noch auf der Suche. Katrin wollte nach der Pilgerreise nach Barcelona gehen und dort einen Job als Webdesignerin finden. Marcello war Profi-Volleyballer und spielte in der nächsten Saison für einen kroatischen Klub. Peter war gerade in die dänische Berufsarmee eingetreten, um eine Offizierslaufbahn anzutreten. Maciej lebte und arbeitete in Berlin als Computerfachmann. Alle waren solo. Einzig Graham war in einer annähernd ähnlichen Situation wie ich. Er arbeitete als Investmentbanker in London und dachte auch darüber nach, noch einmal etwas komplett Neues anzufangen. Mitten unter ihnen wurde mir erneut sehr bewusst, dass ich alles, was ich bis dahin im Leben erreicht hatte, aufgegeben hatte. Ich würde, ähnlich wie die jungen Menschen vor mir, nochmals von vorn anfangen. Vielleicht fühlte ich mich in ihrer Gesellschaft deswegen so wohl. Wenn ich ehrlich bin, führte es auch dazu, dass ich mir jünger vorkam, als ich eigentlich war.
Wir verbrachten den restlichen Tag in dieser heiteren und gelösten Atmosphäre miteinander. Der zunehmend kalte Wind konnte daran auch nichts ändern. Maciej hatte beschlossen, sein Zelt aufzubauen und draußen zu übernachten, die anderen wollten im Freien schlafen unter dem Sternenzelt. Als es immer kälter wurde und bedrohlich nach einem Gewitter aussah, blieb doch nur Maciej mit seinem Zelt im Freien. Sein Bett trat er an Marcello und Katrin ab, die sich um keine Unterkunft gekümmert hatten. Unser Liebespaar wollte sich das Nachtlager teilen. Später im Zimmer hatte ich Mitleid und tauschte meine wesentlich breitere Schlafstatt mit ihrem schmalen, durchhängenden Bett. Eine gute Tat am Tag sollte man eben tun. Bestimmt schlief ich deshalb, entgegen meinen ersten Befürchtungen, tief und fest bis zum anderen Morgen.
29. bis 31. Pilgertag, 20.-22. Juni 2006
Barbadelo - Ligonde - Pontecampana - Arzúa
Drei »schrecklich-schöne« Tage warteten auf mich. Schön waren sie, weil ich sehr viel Nähe, Herzlichkeit und Zuwendung erfahren sollte. Schrecklich, weil mir ein großes Malheur passierte und mein Körper sich wieder deutlich mit Signalen bemerkbar machte.
Dabei fing alles so gut an. Der Morgen war zwar kalt und nebelig, doch man sah schon, wie die ersten Sonnenstrahlen versuchten, sich ihren Weg zu
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