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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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haben
möchten, bin ich natürlich damit einverstanden.«
    »Ein Gemälde …«, sagte Houellebecq
nachdenklich. »Auf jeden Fall habe ich genug Wände, um es aufzuhängen. Das ist
das Einzige, was ich in meinem Leben wirklich habe: Wände.«

III
    U M 12 U HR MUSSTE J ED sein Hotelzimmer räumen, doch seine Maschine nach
Paris flog erst um 19.10 Uhr ab. Obwohl es Sonntag war, war das benachbarte
Einkaufszentrum geöffnet. Er kaufte eine Flasche Whisky aus lokaler
Herstellung; die Kassiererin hieß Magda und fragte ihn, ob er die Kundenkarte
des Dunnes Store habe. Er schlenderte ein paar Minuten über die blitzsauberen
Gänge und begegnete ein paar Gruppen von Jugendlichen, die von einem
Schnellimbiss zu einer Spielhalle gingen. Nachdem er im Ronnies Rocket einen
Fruchtcocktail Apfelsine-Erdbeer-Kiwi getrunken hatte, war er der Ansicht, dass
er nun genug über das Skycourt Shopping Center wisse, und bestellte sich ein
Taxi zum Flughafen. Es war kurz nach dreizehn Uhr.
    Das Estuary
Café war ebenso nüchtern und geräumig wie
alle anderen Einrichtungen des Gebäudes: Die Abstände zwischen den rechteckigen
Tischen aus dunklem Holz waren groß, viel größer als in einem modernen
Luxusrestaurant; die Tische waren so konzipiert, dass sechs Personen bequem
daran Platz fanden. Jed erinnerte sich auf einmal daran, dass die fünfziger
Jahre auch die Jahre des Babybooms gewesen waren.
    Er bestellte sich einen leichten
Krautsalat und Chicken Korma, setzte sich an einen der Tische, trank zum Essen
ab und zu einen kleinen Schluck Whisky und studierte den Abflugplan des
Flughafens Shannon. Mit Ausnahme von Paris, das von Air France, und London, das
von British Airways angeflogen wurde, gab es keine Verbindungen zu
westeuropäischen Hauptstädten. Dagegen gingen nicht weniger als sechs
Linienflüge nach Spanien und zu den Kanarischen Inseln: Alicante, Girona, Fuerteventura,
Malaga, Reus und Teneriffa. All diese Flüge wurden von Ryanair durchgeführt.
Die Billigfluggesellschaft steuerte auch sechs Reiseziele in Polen an: Krakau,
Danzig, Kattowitz, Lodz, Warschau und Breslau. Houellebecq hatte ihm am Abend
zuvor beim Essen gesagt, dass es in Irland sehr viele polnische Einwanderer
gebe, es sei ein Land, das sie allen anderen Ländern vorzögen, vermutlich weil
es den übrigens mittlerweile nicht mehr berechtigten Ruf genieße, eine Hochburg
des Katholizismus zu sein. Der Liberalismus schuf also eine neue Geographie der
Welt aufgrund der Erwartungen der Kundschaft, egal ob diese reiste, um ihre
touristische Neugier zu befriedigen oder um sich ihren Lebensunterhalt zu
verdienen. Die ebene, isometrische Oberfläche der Weltkarte wurde durch eine
anomale Topographie ersetzt, bei der Shannon in größere Nähe zu Kattowitz oder
Fuerteventura rückte als zu Brüssel oder Madrid. Die beiden Flughäfen, die Ryanair
in Frankreich anflog, waren Beauvais und Carcassone. Handelte es sich dabei um
Bestimmungsorte von besonderem touristischem Interesse? Oder wurden sie nur aus
dem Grund touristisch interessant, weil Ryanair die beiden Städte als
Zielflughäfen gewählt hatte? Während Jed noch über die Macht und die Topologie
der Welt nachdachte, nickte er leicht ein.
    Er befand sich inmitten eines weißen,
anscheinend unbegrenzten Raumes. Man konnte die Horizontlinie nicht erkennen,
der Boden von mattem Weiß verschmolz in der Ferne mit dem gleichfarbigen
Himmel. Auf der Bodenoberfläche waren hier und dort in unregelmäßigen Abständen
Textblöcke aus schwarzen Lettern zu erkennen, die ein loses Relief bildeten;
jeder dieser Blöcke mochte etwa fünfzig Worte enthalten. Da begriff Jed, dass
er sich in einem Buch befand, und fragte sich, ob dieses Buch seine
Lebensgeschichte erzählte. Als er sich über die Blöcke beugte, an denen sein
Weg ihn vorbeiführte, hatte er zunächst den Eindruck, dass dies der Fall sei:
Er erkannte Namen wie Olga und Geneviève wieder, aber er konnte keinerlei
Informationen daraus gewinnen, denn die meisten Namen waren verblasst oder wild
durchgestrichen, unleserlich, und neue Namen tauchten auf, die ihm absolut
nichts sagten. Er konnte auch keinerlei zeitliche Richtung bestimmen: Während
er in gerader Linie weiterging, stieß er mehrmals auf den Namen Geneviève, der
nach Olgas Namen wieder auftauchte – dabei war er sich sicher, absolut sicher,
dass er nie die Gelegenheit haben würde, Geneviève wiederzusehen, wohingegen
Olga vielleicht noch ein Teil seiner Zukunft war.
    Er wurde durch

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