Kartiks Schicksal
sie traurig.
»In der Nacht des Feuers«, sage ich. »Was geschah, nachdem Sie das Tor versiegelt hatten?«
Sie faltet ihre Hände wie zum Gebet. »Ich wurde von jenem Scheusal hierher in die Winterwelt gebracht. Alle verlorenen Seelen, alle dunklen Geister waren gekommen, um die erhabene Eugenia Spence, Hohepriesterin des Ordens, jetzt eine Gefangene der Winterwelt, zu sehen. Sie gedachten mich zu zerbrechen, zu bestechen und für ihre bösen Zwecke zu missbrauchen«, sagt sie mit blitzenden Augen. »Aber meine Zauberkraft war stärker, als sie ahnten. Ich widerstand und zur Strafe setzten sie mich im Baum Aller Seelen gefangen.«
»Was ist dieser Baum?«, frage ich.
Sie lächelt. »Der einzige Fleck in dieser gottverlassenen Welt, der zum Orden gehört.«
»Aber wie?«
»Wenn man die Gegenwart begreifen will, muss man die Vergangenheit kennen.« Sie beschreibt mit der Hand einen weiten Bogen und die Szenerie wechselt. Vor unseren Augen erscheint – wie eine Theaterkulisse – ein neugeborenes Land.
»Lange bevor wir in diese Welt kamen, gab es das Magische Reich. Die Magie war da; sie kam aus der Erde selbst und kehrte zur Erde zurück, ein nie endender Kreislauf. Alles befand sich im Gleichgewicht. Es herrschte nur eine unverbrüchliche Regel: Die Toten, die diese Welt passierten, durften nicht bleiben. Sie mussten ins Jenseits eingehen oder sie wurden bösartig.
Aber einige der Verstorbenen konnten sich nicht von ihrer Vergangenheit lösen. Voller Angst und Wut irrten sie umher, um schließlich im trostlosesten Teil des Magischen Reichs Zuflucht zu suchen – der Winterwelt. Auch hier konnte ihr Verlangen nach dem Unerreichbaren nicht gestillt werden. Sie wollten ins Leben zurückkehren und das glaubten sie mithilfe der Magie zu erreichen. Langsam wurde das Verlangen zur Besessenheit. Sie wollten es um jeden Preis. Gemma, ich nehme an, Sie wissen von der Rebellion und was hier in der Winterwelt geschehen ist?«
»Die dunklen Geister der Winterwelt nahmen mehrere Novizinnen des Ordens gefangen und opferten sie hier. Das erste Blutopfer«, antworte ich.
»Ja, aber das ist nicht die ganze Geschichte. Sehen Sie selbst.« Eugenia bewegt ihre Hände über meine Augen. Als ich sie wieder öffne, sehe ich die jungen Priesterinnen, nicht älter als ich, vor einer Schar gespenstischer Wesen. Eine Priesterin ist entkommen; sie versteckt sich hinter einem Felsen und beobachtet das Geschehen.
»Dieser Dolch enthält reichlich Magie«, sagt eine der Priesterinnen verzweifelt und bietet die juwelenbesetzte Klinge dar. »Er kann zu jedem gewünschten Zweck umgeformt werden. Nehmt ihn zum Tausch gegen unsere Freiheit.«
Der Herr der Winterwelt, der dunkelste aller dunklen Geister, knurrt sie drohend an. »Ihr meint, ihr könnt uns damit abspeisen?« Er entreißt ihr den Dolch. »Wenn das Ding Zauberkraft besitzt, dann soll es uns jetzt zeigen, was in ihm steckt!«
Die dunklen Geister scharen sich um die zusammengekauerten Priesterinnen. Der Schreckliche zückt den Dolch und lässt ihn wieder und wieder niedersausen, bis von den Mädchen nichts mehr zu sehen ist außer einer blutigen Hand, die sich gen Himmel streckt, und dann fällt auch sie.
Da, wo das Blut der Mädchen vergossen wurde, spaltet sich der Boden. Ein mächtiger Baum wächst empor, so öd und verkrüppelt wie die Herzen der Verdammten – und voller Magie. Die dunklen Geister verneigen sich vor ihm.
»Endlich haben wir unsere eigene Magie«, sagt der Schreckliche.
»Durch das Opfer haben wir sie gewonnen«, zischt ein anderer.
»Was mit Blut erkauft wurde, fordert Blut. Wir werden die Magie mit Seelen bezahlen und ihre Zauberkraft für unsere eigenen Bedürfnisse nutzen«, verkündet der Schreckliche.
»Aber es waltete eine rettende Gnade«, flüstert Eugenia. Sie bewegt noch einmal die Hand und nun sehe ich die junge Priesterin immer noch hinter dem Felsen. Während die dunklen Geister in ihrer neuen Macht schwelgen, stiehlt die Priesterin den Dolch und läuft damit so schnell sie kann zum Orden. Sie erzählt, was geschehen ist, und die Hohepriesterinnen hören mit grimmigen Gesichtern zu. Die Runen werden errichtet, der Schleier zwischen den Welten wird geschlossen und der Dolch wandert durch die Generationen von Priesterin zu Priesterin.
»Der Orden bewahrte den Dolch vor jeglichem Schaden. Und wir wagten nicht, von dem Baum zu sprechen, aus Furcht, jemand könnte in Versuchung geführt werden. Bald wurde seine Existenz zu einem Mythos.« Mit
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