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Kartiks Schicksal

Kartiks Schicksal

Titel: Kartiks Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Libba Bray
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einfangen und ihn festhalten. Aber je schneller ich laufe, desto weiter entfernt sie sich. Und dann bin ich im kalten, dunklen Wohnzimmer im Haus meiner Großmutter. Vater in seinem Arbeitszimmer, Tom, der seinen Verpflichtungen nachgeht, Großmama, die ihre Besuche machen muss; keiner von uns sieht die anderen. Wir alle allein, verbunden nur durch Traurigkeit, Gewohnheit, Pflicht. Eine Träne rinnt langsam über meine Wange. Die Wahrheit dieser Magie ist wie ein Gift, das ich nicht ausspucken kann.
    Kleine farblose Geschöpfe kriechen unter den Felsen und Steinen hervor. Sie berühren den Saum meines Nachthemds und streicheln meine Arme. »Dies ist der Ort, wohin du gehörst, wo du gebraucht wirst«, schmeicheln sie. »Liebe uns, wie wir dich lieben.«
    Ich drehe den Kopf und da ist Kartik, er kommt auf mich zu, mit entblößter Brust. Ich nehme sein Gesicht in meine Hände, küsse ihn fest und hemmungslos. Ich möchte unter seine Haut kriechen. Die Magie ist nicht vergleichbar mit der Magie, mit der wir bisher gespielt haben. Sie ist roh und drängend. Das ist es, was wir in unserer Welt nicht fühlen, nicht wissen sollen.
    »Küss mich«, flüstere ich.
    Er drückt mich gegen den Baum; seine Lippen sind auf meinen. Unsere Hände sind überall. Ich möchte mich an diese Magie verlieren. Kein Leib. Kein Selbst. Keine Bedenken. Nie mehr verletzt werden.
    Der Baum Aller Seelen spricht in mir. »Und willst du noch mehr?«
    Für einen Moment begehrt die Magie des Tempels in mir auf. Ich sehe mich vor dem Baum stehen, während Kartik laut meinen Namen ruft, und ich fühle mich, als würde ich mich verzweifelt bemühen, aus einem Opiumrausch zu erwachen.
    »Ja«, antwortet jemand und dieser Jemand bin nicht ich. Ich bemühe mich, denjenigen zu sehen, der da geantwortet hat, aber die Äste des Baumes halten mich fest. Der Baum hält mich wie eine Mutter und seine Stimme ist genauso sanft.
    »Schlaf, schlaf, schlaf …«
    Ich falle und warte, dass mich jemand auffängt, aber niemand tut es, also falle ich immer weiter in eine Dunkelheit, die nie endet.
    Später – wann genau, kann ich nicht sagen, denn die Zeit hat jede Bedeutung verloren –, später höre ich eine Stimme, die uns sagt, es sei Zeit zu gehen. Plötzlich spüre ich die Kälte. Meine Zähne klappern. Die Wimpern meiner Freundinnen sind mit Raureif überzogen. Wortlos kehren wir dem Baum den Rücken und gehen den Weg zurück, den wir gekommen sind. Vorüber an den Leichen, die wie grausige Chimären von den Bäumen hängen, ihr Flehen ein Hauch im Flüstern des Windes: »Helft uns …«
    *
    Der restliche Rückweg aus der Winterwelt gleicht einem Traum, von dem ich wenig behalten habe. Meine Arme sind zerkratzt und ich kann mich nicht erinnern, wie das passiert ist. Meine Lippen sind wund, ich befeuchte sie mit der Zunge und fühle kleine Risse in der Haut. Als wir die nebelverhangene Schwelle des Niemandslands überschreiten, überkommt mich schmerzhaft der Wunsch umzukehren. Die seltsame dämmerige Schönheit des Niemandslands existiert nicht mehr. Ich spüre, dass es den anderen genauso ergeht, sehe es an ihren rückwärts gewandten Blicken. Wir treten über die Ranken, die sich aus der Winterwelt hierher schlängeln. Sie strecken ihre Arme aus und schieben sich immer näher an die Burg heran.
    Bessie redet wie in Trance. »Es war, als würde er mich kennen. Wirklich kennen. Ich hab mich selbst gesehen und ich war eine richtige feine Dame – nicht nur zum Schein, sondern in Wirklichkeit.«
    »Keine Furcht«, murmelt Felicity und streckt die Arme über ihren Kopf. »Keine Lügen.«
    Pippa dreht sich wie ein Kreisel um sich selbst, schneller und immer schneller, bis sie lachend niederfällt. »Jetzt ergibt es einen Sinn. Ich verstehe alles.«
    Die Medusa wartet auf dem Fluss auf uns. Ich versuche eine Begegnung zu vermeiden, aber sie sieht mich, als ich hinter eine blühende Hecke schlüpfe.
    »Gebieterin, ich habe dich gesucht.«
    »Nun, offenbar hast du mich gefunden.«
    Ihre Augen verengen sich und ich frage mich, ob sie an meiner Haut das Verbotene riechen kann wie eines anderen Menschen Schweiß. Meine Gefährtinnen sind außer Rand und Band. Eine neue Verwegenheit leuchtet aus ihren Augen und rötet ihre Wangen. Felicity lacht und es klingt wie ein Schlachtruf. Ich möchte zu ihnen gehen, möchte unser Erlebnis in der Winterwelt noch einmal durchleben, statt dem wachsamen Blick der Medusa ausgesetzt zu sein.
    »Was ist?«, rufe ich.
    »Komm näher«,

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