Kartiks Schicksal
einer Handbewegung wischt Eugenia das Bild fort. »Ich war die letzte Hüterin des Dolches, aber ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist.«
»Ich habe ihn in meiner Vision gesehen, bei einer Ihrer früheren Schülerinnen, Miss Wilhelmina Wyatt!«, platze ich heraus.
»Mina erscheint in Ihren Visionen?«, fragt Eugenia. Sorge zeichnet sich auf ihrem Gesicht ab. »Was zeigt sie Ihnen?«
Ich schüttle den Kopf. »Das meiste davon ergibt für mich keinen Sinn. Aber ich habe den Dolch in ihrer Hand gesehen.«
Eugenia nickt versonnen. »Sie war immer davon angezogen, von der Dunkelheit. Ich hoffe, dass man ihr trauen kann …« Ihr Blick ist hart wie Stahl. »Sie müssen den Dolch finden. Das ist ein Befehl.«
»Warum?«
Inzwischen haben wir einen Berggipfel erreicht. Der Wind umtost uns. Er droht mein Haar in eine Löwenmähne zu verwandeln. Weit unten im Tal sehe ich meine Freundinnen, so klein wie Vögel.
»Ich befürchte, dass sich wieder eine Rebellion zusammenbraut – dass alte Bündnisse zwischen den Völkern des Magischen Reichs und den dunklen Geistern der Winterwelt neu geschmiedet werden«, sagt Eugenia. »Und dass eine der Unseren einen niederträchtigen Pakt geschlossen hat im Tausch gegen Magie. Ich hatte so etwas lange nicht für möglich gehalten und diese Naivität kam mich teuer zu stehen«, sagt sie und ich schäme mich für das, was meine Mutter und Circe getan haben. Ich will ihr von Circe erzählen, aber ich bringe es nicht über mich.
»Aber ich dachte, die dunklen Geister der Winterwelt seien verschwunden«, sage ich stattdessen.
»Sie sind da, irgendwo, täuschen Sie sich nicht. Sie haben einen furchtbaren, kriegerischen Anführer – ein ehemaliges Mitglied der Bruderschaft der Rakschana.«
»Amar«, sage ich tonlos.
»Seine Zauberkraft ist gewaltig. Ebenso wie Ihre.« Sie fasst mit ihrer kalten Hand unter mein Kinn. Am Horizont pulsiert der tintenschwarze Himmel wieder von einem wundersamen Licht. »Sie müssen vorsichtig sein, Gemma. Wenn die Priesterinnen des Ordens in irgendeiner Weise bestochen wurden, dann könnten sie Ihre Magie gegen Sie verwenden.«
Eine elektrische Entladung entzündet den Himmel und noch Sekunden danach tanzen Sterne vor meinen Augen. »Wie?«
»Sie könnten Ihre Sinne täuschen, Sie Dinge sehen lassen, die nicht da sind. Es wird sein, als seien Sie verrückt geworden. Sie müssen ständig wachsam sein. Trauen Sie niemandem. Seien Sie auf der Hut. Denn wenn Sie fallen, sind wir für immer verloren.«
Mein Herz beginnt zu rasen, gleichsam im Wettstreit mit dem Sturm. »Was soll ich tun?«
Wieder pulsiert dieses seltsame Licht und ich sehe die eiserne Entschlossenheit in Eugenias Augen. »Ohne den Dolch kann der Orden meine Zauberkraft nicht an den Baum binden. Sie müssen den Dolch finden, Gemma, und ihn mir bringen.«
»Was werden Sie damit tun?«
»Was getan werden muss, um die Dinge wieder ins Lot zu bringen und den Frieden wiederherzustellen«, sagt sie und nimmt meine Hand. Plötzlich stehen wir am Ufer eines Sees. Der Nebel lichtet sich. Eine Barke mit drei Frauen an Bord taucht auf. Eine sehr alte Frau mit zerfurchtem Gesicht bewegt das Boot über das ruhige Wasser. Eine andere Frau, jung und schön, hält eine Lampe hoch, um zu leuchten. Die dritte Frau steht und hält ein Füllhorn. Sie ziehen dahin, ohne von uns Notiz zu nehmen.
»Diese Frauen … ich habe ihre Ebenbilder auf den Steinen gesehen, die das geheime Tor bewachen. Wer sind sie?«
»Sie haben viele Namen – die Moiren, die Parzen, die Nomen, die Wyrd-Schwestern oder einfach die Schicksalsfrauen. Wir kennen sie seit jeher als die Drei. Wenn eine Priesterin dem Tod ins Auge sieht, geht sie durch den Nebel der Zeit und wird an der Wegkreuzung von den Dreien erwartet, wo ihr ein letzter Wunsch erfüllt wird und sie eine Wahl treffen muss.«
»Eine Wahl«, wiederhole ich und verstehe überhaupt nichts.
»Sie kann sich entscheiden, mit der Barke in eine Welt der Schönheit und des Ruhms überzusetzen. Wenn sie die Überfahrt sicher bewältigt hat, wird ihr Ebenbild in den unsterblichen Steinen erscheinen.«
»Also waren all jene Frauen, die auf den Steinen abgebildet sind …«
Eugenia lächelt und es ist, als würde die Sonne nur für mich scheinen. »Sie waren einmal Priesterinnen wie Sie und ich.«
»Sie haben gesagt, sie könne eine Wahl treffen. Aber warum sollte sie sich nicht für einen so wunderbaren Ort entscheiden? Wofür denn sonst?«
»Vielleicht hat sie das
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