Kartiks Schicksal
ist nur eine Redewendung: Auf jene, die sehen wollen, wartet die Welt.«
Das Boot legt an, bereit, Mutter Elena über den Fluss zu tragen. Sie singt eine Art Schlaflied. Das Licht nimmt an Helligkeit zu und badet sie in seinen gleißenden Glanz, bis ich nicht mehr sagen kann, wo das Licht endet und sie beginnt. Und dann ist sie fort.
Auf jene, die sehen wollen, wartet die Welt. Es scheint viel mehr als nur eine Redewendung zu sein.
Vielleicht ist es eine Hoffnung.
74. Kapitel
Ich warte eine Weile vor Mrs Nightwings Zimmer, um unter vier Augen mit ihr zu sprechen. Um fünf Minuten nach drei Uhr öffnet sich die Tür und gewährt mir Eintritt in das innere Heiligtum. Ich muss an den Tag meiner Ankunft in Spence denken, als ich zum ersten Mal diesen Raum betrat, in meinem schwarzen Trauerkleid, verloren und kummervoll, ohne einen Freund oder eine Freundin auf der Welt. Wie viel ist seither geschehen.
Mrs Nightwing faltet die Hände auf ihrem Schreibtisch und blickt mich über den Rand ihrer Brillengläser an. »Sie wollten mich sprechen, Miss Doyle?« Gute alte Mrs Nightwing, so standhaft wie England.
»Ja«, beginne ich.
»Also gut. Ich hoffe, Sie fassen sich kurz. Ich muss zwei Lehrkräfte ersetzen, nun, wo Mademoiselle LeFarge heiratet und Miss McChennmine … Sahirah..« Sie blinzelt. Ihre Augen röten sich.
»Es tut mir leid«, sage ich.
Sie schließt für einen winzigen Moment die Augen und ihre Lippen zittern ein ganz kleines bisschen. Und dann ist es auch schon vorüber, wie eine schwarze Wolke, die mit Regen gedroht hat und abgezogen ist. »Was haben Sie auf dem Herzen, Miss Doyle?«
»Ich wäre Ihnen sehr dankbar für Ihre Hilfe in Bezug auf das Magische Reich«, sage ich und straffe meinen Rücken.
Eine Röte echter Verlegenheit steigt in Mrs Nightwings Wangen. »Ich weiß nicht, in welcher Weise ich Ihnen behilflich sein könnte.«
»Ich werde Hilfe brauchen, um das Tor instand zu halten und zu bewachen, besonders während meiner Abwesenheit.«
Sie nickt. »Ja. Gewiss.«
Ich räuspere mich. »Und da ist noch etwas, was Sie tun könnten. Es betrifft Spence. Und die Mädchen.« Sie zieht eine Augenbraue hoch. »Sie könnten sie wahrhaft erziehen. Sie könnten sie lehren, selbstständig zu denken.«
Mrs Nightwing rührt sich nicht, nur ihre Augen verengen sich zu misstrauischen Schlitzen. »Das soll wohl ein Scherz sein?«
»Im Gegenteil, es war mir noch nie so ernst.«
»Ihre Mütter werden vor Freude außer sich sein«, murmelt sie. »Zweifellos werden sie uns in Scharen die Tür einrennen.«
Ich schlage mit der Faust auf den Tisch, so heftig, dass Mrs Nightwings Teetasse klirrt und Mrs Nightwing zusammenzuckt. »Warum sollten wir Mädchen nicht die gleichen Rechte haben wie Männer? Warum lassen wir unsere Begabungen unter einem Harnisch aus Angst, Scham und Sehnsucht verkümmern? Wie sollen wir jemals nach mehr verlangen, wenn wir uns dessen nicht für wert halten?
Ich habe gesehen, was eine Handvoll Mädchen tun kann, Mrs Nightwing. Sie können eine Armee aufhalten, wenn es nötig ist, also sagen Sie mir bitte nicht, dass es unmöglich ist. Ein neues Jahrhundert bricht an. Mit Sicherheit könnten wir auf ein paar alte Strickmuster verzichten.«
Mrs Nightwing ist so still, dass ich fürchte, sie habe durch meinen Ausbruch einen Herzstillstand erlitten. Ihre sonst so gebieterische Stimme zittert. »Ich werde alle meine Mädchen an Miss Pennington verlieren.«
Ich seufze. »Nein, das werden Sie nicht. Nur dumme Gänse gehen ins Penny-Pensionat.«
»Äußerst unliebenswürdig, Miss Doyle.« Mrs Nightwing schüttelt missbilligend den Kopf. Sie stellt die Teetasse haargenau auf ihre Untertasse. »Ich biete Ihnen jede erdenkliche Hilfe im Magischen Reich. Sie können sich darauf verlassen. Was die andere Sache betrifft, so muss ich noch gründlich darüber nachdenken und dazu fehlt mir im Moment die Zeit. Ich habe eine Schule voller Mädchen, um deren Unterricht und deren Wohl ich mich zu kümmern habe. Ich habe auch meine Pflichten. Gibt es noch etwas, worüber Sie mit mir sprechen wollen, oder ist das alles für heute?«
»Das ist alles. Haben Sie vielen Dank, Mrs Nightwing.«
»Lillian«, sagt sie so leise, dass ich es fast überhöre.
»Danke … Lillian«, sage ich und koste ihren Namen auf meiner Zunge wie ein exotisches neues Currygericht.
»Es war mir ein Vergnügen. Gemma.« Sie schiebt ein paar Papiere auf ihrem Schreibtisch zusammen und steckt sie unter eine Silberdose, um
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