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Karwoche

Karwoche

Titel: Karwoche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Föhr
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störte nur Frau Dr. Pesternichs Gesicht. Mit den fülligen Bäckchen, der Entennase, den aufgeworfenen Lippen und dem semmelblonden Topfschnitt nährte es die Vermutung, dass die Vorfahren der Therapeutin sich einst in Kaschubien mit dem Hüten von Schweinen durchschlagen mussten. Die stets weit aufgerissenen Augen irritierten Wallner. Hatte die Frau in zwanzig Berufsjahren nicht genug Elend gesehen, um nicht bei jeder Kleinigkeit erstaunt zu sein?
    »Es ist sehr freundlich, dass Sie mich am Wochenende empfangen.«
    »Aber das ist doch selbstverständlich«, sagte Frau Dr. Pesternich und riss ihre Augen auf. »Hatten Sie gedacht, ich werfe Sie wieder raus?« Sie griff nach einem gelb verpackten Osterei und sagte, bevor Wallner auf ihre Frage antworten konnte: »Möchten Sie ein Schokoladenei? Die Füllungen sind sensationell.«
    Wallner erwog den Bruchteil einer Sekunde, eines der Schokoladeneier zu essen. Doch hatte er in der vorösterlichen Zeit ziemlich zugenommen. »Danke. Aber mein Großvater zwingt mich täglich, seine selbstgebackenen Osterleckereien zu essen. Mein Appetit auf Süßes hält sich daher in Grenzen.«
    Die Therapeutin hatte Wallners Zögern sorgsam registriert. »Sie wollen von mir etwas über Leni Millruth erfahren?«
    »Man hatte Sie ja als Zeugin für den Prozess gegen den Onkel Ihrer Patientin vorgesehen. Aber Sie waren in der Zeit im Ausland. Und da hat man auf Ihre Aussage verzichtet.«
    »Es lag wohl ohnehin ein Geständnis vor.«
    »Richtig. Mich würde trotzdem interessieren, was Sie zu sagen haben.«
    »Sie wissen, ich unterliege der Schweigepflicht.«
    »Wenn Ihre Patientin Sie nicht mehr davon entbinden kann, müssen Sie selbst entscheiden, was im Sinne Ihrer Patientin wäre.«
    »Stimmt.« Frau Pesternich nahm ein grünes Ei und wickelte es aus. »Warum würde Frau Millruth wollen, dass ich Ihnen etwas über die Therapie erzähle?«
    »Weil mir das hilft, ihren Mörder zu finden.«
    »Ich denke, der ist schon verurteilt.«
    »Wolfgang Millruth wurde wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Ich bin aber überzeugt, dass jemand anderer Leni Millruth ermordet hat.«
    Frau Pesternich schickte ihre Augenbrauen in Richtung Haaransatz.
    »Es gibt Hinweise, dass der Onkel die Tat auf sich genommen hat, um jemanden in der Familie zu schützen.«
    »Ich nehme nicht an, dass Ihre Vorgesetzten begeistert sind, wenn Sie abgeschlossene Fälle wieder aufwärmen.«
    »Nun, das stößt nicht nur auf Gegenliebe.«
    »Warum machen Sie es dann?«
    »Pflichtbewusstsein.«
    »Aha. Vielleicht auch aus – ich sag mal: Freude darüber, recht zu behalten?«
    »Sie meinen Rechthaberei?«
    »Wenn Sie es so nennen wollen.«
    »Interessanter Gedanke. Aber ich bin eigentlich nicht zur Therapie hier.«
    »Entschuldigen Sie. Das steckt einfach in mir.« Sie knüllte das grüne Stanniol zusammen und legte es neben das Schälchen auf den Tisch. Dann sah sie Wallner prüfend an. »Sie würden nie zu einer Therapie gehen, stimmt’s?«
    »Eine gewagte Aussage. In Anbetracht des Umstandes, dass wir uns gerade mal fünf Minuten kennen. Aber in der Tat würde ich nicht zu einer Therapie gehen.«
    »Warum nicht?«
    »Ich will ja überhaupt nicht bestreiten, dass manchen Leuten eine Therapie hilft. Aber ich kenne zu viele Menschen, von deren Therapie nur einer profitiert: der Kontostand ihres Therapeuten. Das ist jetzt nichts gegen Sie. Aber ich finde, den meisten Menschen wäre mehr geholfen, wenn sie ehrlicher zu sich selbst wären.«
    »Da haben Sie gar nicht mal unrecht. Nur – die meisten Menschen sind es eben nicht.«
    »Gut. Dann mögen von mir aus die Therapeuten an ihren Depressionen verdienen.«
    »Haben Sie manchmal Depressionen?«
    »Ja. Wenn mein Großvater Gulasch kocht. Sein Geschmackssinn hat altersbedingt nachgelassen.«
    Frau Pesternich lächelte Wallner spitzbübisch an. »Dachte ich’s mir doch. Ein Kontrollfreak!«
    »Meinen Sie mich?«
    Pesternich sah sich ostentativ im Raum um und öffnete ihre Hände mit einer fragenden Geste.
    »Wie zum Teufel wollen Sie das in meine Gulaschbemerkung hineininterpretieren?«
    »Wenn das Gespräch auf Ihre seelische Befindlichkeit kommt, ziehen Sie die Dinge ins Lächerliche. Auf diese Weise müssen Sie sich nicht damit auseinandersetzen. Sie leben offenbar mit Ihrem Großvater zusammen. Was ich ehrenwert finde. Aber vermutlich halten Sie ihn nicht mehr für ganz lebenstüchtig und organisieren seinen Alltag. Sie sind der Typ, der den Großvater zur

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