Karwoche
Verwandtschaft schickt, wenn er in den Urlaub fährt, damit jemand auf ihn aufpasst.«
Wallner vergaß einen Augenblick, den Mund zuzumachen. »Was wäre daran falsch? Nur angenommen.«
»Würden Sie vorher fragen, ob er überhaupt wegfahren will?«
»Ich glaube, das führt zu nichts. Es geht hier nicht um meine familiären Verhältnisse. Ich wollte eigentlich über Leni Millruth reden.«
»Nun gut. Ich denke, es wäre in Frau Millruths Sinne, wenn Sie ihren Mörder finden. Was wollen Sie wissen?«
Wallner zog ein Blatt Papier aus seiner Jacke. Es war der Ausdruck einer Fragenliste, die er in Vorbereitung auf das Gespräch angefertigt hatte. »Warum war Leni Millruth in Therapie?«, begann er.
»Sie litt unter innerer Unruhe, Depressionen und Essstörungen, hatte den Drang, sich selbst zu verletzen, und dachte an Selbstmord. Sie glaubte, es läge an der fremden Umgebung hier in Erlangen und daran, dass sie nicht bei ihrer Familie war.«
»Hatte sie die Beschwerden vorher nicht?«
»Nein. Sie kam nach Erlangen, und zwei Monate später fing alles an. Nach einem Jahr kam sie zu mir.«
»Gibt es einen Namen für diese psychische Störung?«
»Borderline-Persönlichkeitsstörung. Kurz BPS .«
»Den Begriff habe ich schon mal gehört. War es Zufall, dass die Symptome erst hier auftraten?«
»In dem Fall würde ich sagen: Es war kein Zufall. Leni Millruth hatte bis zu ihrem Abitur in einer behüteten Umgebung gelebt. Ihre Familie hatte sie gestützt und stabilisiert. Als sie ihr Zuhause verließ, fiel diese Stütze weg, und es gab nichts mehr, das dem Chaos in ihrem Inneren Einhalt geboten hätte.«
»Wodurch wurde das Chaos in ihrem Inneren verursacht?«
»Was ich Ihnen jetzt sage, bleibt unter uns, bis ich Ihnen erlaube, es zu verwenden. Das ist meine Bedingung.«
»Reden Sie«, sagte Wallner und nahm einen Stift zur Hand.
Kapitel 40
» B PS – ich nenne es einfach mal Borderline – ist eine sehr ernste Sache. Ein nicht unerheblicher Teil der Patienten begeht Suizid.«
»Welche Größenordnung?«
»Zwanzig Prozent.«
»Das ist viel.«
»Ja. Zu viel. Deswegen ist es wichtig, dass die Krankheit erkannt und richtig behandelt wird. Aber ich will nicht über die Therapie reden. Kaffee?« Pesternich griff zur Kaffeekanne.
»Danke, im Augenblick nicht.«
»Nun – BPS ist meist keine Krankheit, die man kriegt, weil es einen eben trifft. Wie Leukämie oder Grippe. Borderliner wird man durch ein Ereignis, das die Seele so schwer erschüttert, dass sie aus dem Gleichgewicht gerät.«
»Gewalt? Missbrauch?«
»Ja. Meist in der Kindheit. Viele Patienten kennen diesen Zusammenhang nicht. Ganz einfach, weil sie sich nicht an das Ereignis erinnern. Es wird vergessen. Irgendwo in den Tiefen der Psyche weggesperrt, damit man weiterleben kann.«
»Und was war es bei Leni Millruth?«
»Es hat ein Jahr Therapie gebraucht, bis die Erinnerung wiederkam. Ich war mir aber sicher, dass wir etwas finden würden. Sie wurde missbraucht. Im Alter von acht Jahren.«
»Von wem?«
»Von ihrem Vater. Es erstreckte sich anscheinend über eine relativ kurze Zeit. Dann hörte es auf.«
Wallner starrte auf die Kaffeekanne. »Von ihrem Vater?«
»Ja. Ist nicht so ungewöhnlich.«
»Sicher. Die Vorstellung, dass in dieser Musterfamilie achtjährige Mädchen vom Vater missbraucht werden, ist natürlich irritierend. Aber Kindesmissbrauch ist ja kein Phänomen der armen Leute.«
»Absolut nicht.«
»Wie sicher ist das? Ich meine, Leni Millruth konnte sich offenbar viele Jahre nicht mehr daran erinnern. Jetzt ging es ihr psychisch schlecht, und ihr fiel der Missbrauch ein. Ist das Gedächtnis da zuverlässig?«
»Nicht immer. Aber es ist ja nicht so, dass sich die Patientin generell erinnert, missbraucht worden zu sein. Es sind einzelne Situationen, die erinnert werden. Das ist mit viel Schmerz verbunden. Aber es ist relativ konkret.«
»Ich habe mal gelesen, dass einen das Gedächtnis auch täuschen kann. Weil es Dinge dazuerfindet, Teile ergänzt, an die keine Erinnerung mehr besteht.«
»Das kann jedem passieren. Das Gehirn neigt dazu, Erinnerungslücken mit anderweitig erlebten Vorkommnissen auszufüllen. Es gibt auch andere Gründe für fehlerhafte Erinnerungen. Bei Missbrauchsfällen kann es passieren, dass statt des Vaters ein anderer Täter identifiziert wird.«
»Warum?«
»Um den Vater zu schützen.«
»Warum will ein Kind seinen Vater schützen, wenn er ihm so etwas angetan hat?«
»Das ist im Prinzip eine
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