Kasey Michaels
ein paar Wochen werden wir siebzehn und damit viel zu
alt, um wieder ins Schulzimmer verbannt zu werden, vor allem, da wir nun ein
halbes Jahr lang die Freiheit gekostet haben. Stell dir nur vor, welchen Unfug
wir anstellen werden, wenn Rafe nach London umsiedelt und wir hier uns selbst
überlassen sind.“
„Lieber
stelle ich mir vor, von einem durchgegangenen Pferd überrannt zu werden“,
seufzte Charlotte.
„Eben! Also
schließen wir einen Kompromiss: Du kommst als unsere Freundin mit – fast schon
als Familienmitglied. Klar?“
„Nicole, du
bewegst dich hart an der Grenze! Ich kann immer noch selbst gehen und Rafe
alles sagen, dann kommt ihr beide aus euren Zimmern nie wieder heraus und nach
London schon gar nicht.“
Rasch
umarmte Nicole sie. „Verzeih mir, bitte, es tut mir so leid. Wir sollten nicht
streiten, nicht, wo wir beide uns lieber nicht erwischen lassen wollen.“
„Traurig
genug, aber du hast recht. Na, dann werden wir also Grayson bestechen müssen,
dass er stillschweigend meine Sachen aus dem Rose Cottage holen lässt, damit
es so aussieht, als hätte ich während der letzten Monate hier gewohnt.“
Fünf Minuten später eilte Charlotte den
Korridor entlang, ein paar Scheine in ihrer Tasche, und überlegte, ob sie wohl
nicht ganz bei Trost war. Nur ein Narr konnte glauben, dass sie mit dieser
Scharade durchkamen. Genau genommen hatte sie nur einen Trumpf: Dass nämlich
Grayson nicht das mindeste von Rafe als dem neuen Duke hielt und ihn nur zu
gerne hintergehen würde.
Eigentlich
fand sie es abscheulich, Rafe belügen zu müssen, doch wozu wäre die Wahrheit
gut? Die Zwillinge waren wohlauf, ihr Ruf war intakt, und sie hatten das Haus
nicht niedergebrannt. Warum ihn also beunruhigen? Der arme Kerl war auch so
schon genügend aus dem Gleichgewicht, obwohl sie sicher war, dass er bald in
seine neue Rolle hineinwachsen würde. Und wenn sie es ihm beichtete, musste
es, was ihr sehr widerstrebte, auch Emmaline erfahren, die frisch verheiratet
und guter Hoffnung war.
Am Kopf der
Treppe blieb sie stehen und schaute staunend über das Geländer hinunter in die
Halle. Da unten standen die Dienstboten in zwei langen Reihen aufgestellt,
Lakaien und Hausknechte, Hausmädchen, Köchin und Küchenmägde. Und Rafe ...
Charlotte sank auf die Knie und lugte zwischen den geschnitzten Stäben
hindurch, wie der neue Duke, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, Grayson
an seiner Seite, an seinen Leuten entlangdefilierte und gnädig nickend Knicks
oder Verbeugung jedes Einzelnen entgegennahm.
Wunderschön
sah er aus in seinen feinen Londoner Kleidern, im Licht der großen
Kronleuchter schimmerte sein dunkles Haar, noch feucht; offensichtlich hatte er
sich mittlerweile den Staub der Reise abgewaschen.
Sie musste
gegen die Tränen kämpfen, als Rafe am Ende der Reihe
den sechs Kindern der Köchin gegenüberstand, deren jüngstes ihm einen noch
warmen Kuchen präsentierte. Freundlich strubbelte er dem Kind durchs Haar,
dann klatschte Grayson dreimal in die Hände, das Zeichen für die Leute, sich
zurückzuziehen.
„Danke,
Grayson“, sagte Rafe, als die Halle sich geleert hatte.
„Keine
Ursache, Euer Gnaden“, erwiderte der Butler und streckte Rafe ein
silbernes Tablett entgegen. „Lassen Sie mich das nehmen.“
„Kommt
nicht infrage! Ich bin hungrig, und das war der erste Happen zu essen, der mir
hier angeboten worden ist, seit ich vor Stunden angekommen bin! Hören Sie,
Grayson, ich habe Ihren Tick bisher hingenommen, weil Sie dem verstorbenen
Duke treu gedient haben. Doch seien Sie gewarnt, weitere Unverschämtheiten
werde ich mir weder von Ihnen noch sonst jemandem in diesem Hause bieten
lassen. Die Dienerschaft richtet sich nach Ihnen,
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