Kaspar - Die Reise nach Feuerland (German Edition)
Nebel zwischen den Bäume«, antwortete Lars und deutete aus dem Fenster.
Sekunden später tauchte ein zerfurchtes Gesicht aus dem Nebel auf, das finster dreinblickte. Als die Gestalt ganz zum Vorschein kam, bestand sein Gewand aus sich ständig erneuernden Wurzeln.
»Ein Geist«, schrie Lars, seine Beine zitterten.
»Hör auf zu jammern, Lars!«, ermahnte Juana ihn mit einem strengen Lehrerblick.
Wieder sprach eine sanfte, männliche Stimme zu Sebastian: »Ich kann aus meiner Welt leider nicht in deine, aber du kannst in meine.«
Sebastian schlug das Buch geräuschvoll zu. Stille hatte sich in dem Raum ausgebreitet.
»Wer bist du?«, fragte Sebastian schließlich, während die alte Standuhr in der Ecke plötzlich fünf Uhr schlug.
Anstatt auf eine Antwort zu warten, stand Sebastian auf und stürmte aus dem Zimmer, rannte die alte Holztreppe hinunter, warf einen schnellen Blick ins Wohnzimmer und sah, dass Joe im Schaukelstuhl saß und schlief. Er stürmte hinaus in den Garten, in den Nebel hinein. Juana, Niko und Lars folgten ihm. Stille herrschte in der Runde. Der Fremde bewegte sich gefährlich nah auf Sebastian zu. Er reichte Sebastian zwar nur bis zur Brust, dennoch war Sebastian vorsichtig.
»Wer bist du?«, krächzte Sebastian. »Was willst du von uns?«
Statt gleich zu antworten, ließ der Fremde ein wenig Flüssigkeit aus einem ledernen Trinkbeutel in seinen Mund laufen. Sebastian hätte ihm am liebsten den Beutel aus der Hand gerissen.
»Wir sollten Ruhe bewahren«, meldete Juana sich zu Wort. »Der Geist kann uns nichts anhaben, wenn wir es nicht zulassen.«
»Woher hast du denn diese Weisheit?«, fragte Lars leise und seine Stirn legte sich in Falten.
»Ihr müsst wissen, so eine Reise macht durstig«, krächzte der Fremde, als er den Lederbeutel senkte.
Bevor Sebastian weitere Fragen stellen konnte, fragte der Fremde mit kratziger Stimme: »Habt ihr auch Durst?«, und streckte den Trinkbeutel Sebastian und seinen Freunden entgegen. Als sie keine Reaktion zeigten, fuhr er fort: »Nein, nicht – auch gut, werdet ihr aber sicherlich noch bekommen, wenn ihr mit mir zurückreist. Ihr müsst wissen, so eine Reise macht durstig, ach, ja, das sagte ich ja schon – außerdem müsst ihr wissen, dass das Böse große Macht hat, und es wird nicht ruhen, ehe alles Gute in meiner und eurer Welt zerstört ist.« Eine unheimliche Pause trat ein. »Ich bin Nox, ein Erdgeist.«
Als Nox in die verblüfften Gesichter der Kinder blickte, sagte er kopfschüttelnd: »Habt ihr noch nie einen Erdgeist zu Gesicht bekommen?« Nox schüttelte wieder den Kopf und hängte den Trinkbeutel an seinen Wurzelgürtel. »Menschenkinder«, sagte er, »kleine unwissende Geschöpfe seid ihr.«
Lars fasste all seinen Mut zusammen. »Bist du ein guter oder ein böser Geist?«
Nox lächelte. »Ich bin kein Geist, Menschenkind, ich bin ein Erdgeist, das ist kein Geist im klassischen Sinne, Menschenkind – also, ein Gespenst, das meinst du sicher, das bin ich nicht – ich bin ein Erdgeist und nicht hier, um euch etwas anzutun«, erklärte er. »Ich bin hier, um euch in die Andere-Welt zu geleiten. Eigentlich ist dies nur in einer Vollmondnacht möglich, jedoch habe ich einen Einmal-Zauber, mit dem uns die Reise trotzdem gelingen sollte.«
»Das verstehe ich nicht«, flüsterte Lars Sebastian zu. »Ist er nun ein Geist, oder nicht?«
»Also, ich glaube, dass, was er uns damit sagen will ist, dass er so lebendig ist wie wir«, sagte Sebastian.
Nox nickte. »Genau, Kaspar, das wollte ich damit sagen.«
Juana und Niko standen sprachlos da.
»Was um alles in der Welt ist ein Einmal-Zauber?« Juana fand vor Niko die Sprache wieder.
»Das Elixier ist von Balthasar, dem Zauberer ...«
»Von einem Zauberer ...«, warf Niko ein und wurde von Juana unterbrochen: »Pssst! Sei still, Niko!«
Das Schweigen, das nun eintrat, wurde nur vom Zwitschern einiger Vögel unterbrochen, die in den Johannisbeersträuchern saßen.
»Du musst in die Andere-Welt, daran führt kein Weg vorbei, Kaspar«, sagte Nox und fuchtelte mit der kleinen Hand vor Sebastians Gesicht herum, »und jetzt kein Wort mehr! Keine Zeit mehr für Erklärungen - die Andere-Welt ist in großer Gefahr.«
»Warum nennst du mich dauernd Kaspar?«, fragte Sebastian und musste dabei an die Stimmen und den Chorgesang denken, die ihn auch bei diesem Namen nannten.
»Na, weil das dein Name ist«, schüttelte Nox verständnislos den Kopf.
»Mein Name ist Sebastian.«
Nox
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