Kassandra Verschwörung
selben Weg wieder zurück. Die Fahrt war eine ziemliche Tortur, und je länger sie arbeitete oder in der Stadt blieb, desto weniger überfüllt waren die Züge auf ihrem Nachhauseweg. Deshalb hatte sie eines Abends noch für eine gute Stunde ein Weinlokal in der Nähe ihrer Arbeitsstelle aufgesucht und mit einigen ihrer Kollegen etwas getrunken. Irgendjemand feierte seinen Geburtstag. Das vegetarische indische Essen hatte sie nicht abgewartet, sondern immer wieder verstohlene Blicke auf ihre Uhr geworfen und sich um halb acht verabschiedet.
Trotz des Augenzwinkerns ihrer Kollegen und der Anspielungen gab es keinen Freund, der auf sie wartete, sondern lediglich die U-Bahn, den Zug und den kurzen Fußweg nach Hause. Wo sie den Rest des Abends vor dem Fernseher verbringen würde, so wie die meisten anderen Abende.
Da die Hexe herausfinden wollte, was sie wohl für das Wochenende plante, war sie an diesem Morgen, nachdem die drei Frauen das Haus verlassen hatten, dort eingedrungen. Drinnen hatte sie eine erfreuliche Überraschung erwartet: Die anderen Mitbewohnerinnen würden übers Wochenende verreisen. Darauf wiesen voll- und halbgepackte Taschen hin sowie das zum Teil ausgeräumte Bad. Nur Christine Jones’ Zimmer sah ordentlich aufgeräumt aus. Dort stand kein Reisegepäck bereit.
In der Küche lag der Prospekt eines Campingplatzes in Wales. Die Telefonnummer des Platzes war eingekringelt. Offensichtlich lag sie dort für den Fall, dass Christine sie brauchen sollte. Es war wahrscheinlich Christines Idee gewesen. Sie schien viel besser organisiert als ihre Mitbewohnerinnen. In einem Wandkalender war für diesen Abend eine Zeit markiert, zu der »Garry und Ed« vorbeikommen würden. Ein erneuter Blick in die Zimmer von Christines Mitbewohnerinnen bestätigte, dass Garry und Ed deren Freunde waren. Die vier würden einen Campingausflug nach Wales unternehmen. Schön.
Die Hexe fragte sich, wie Christine ihr Wochenende verbringen würde. Es gab keinerlei Hinweis darauf, dass sie wegfahren wollte oder Besuch erwartete oder eine Party plante oder auch nur jemanden zum Essen eingeladen hatte. Sie lernte an einer Abendschule Deutsch, und wie es aussah, wollte sie einen Teil ihrer Zeit damit verbringen, ihre Hausaufgaben nachzuholen. Außerdem warteten drei dicke, neu ausgeliehene Bücher aus der Bibliothek darauf, gelesen zu werden. Und für den Fall, dass sie Lust bekäme, sich ein oder zwei Filme auszuleihen, lag auf dem Couchtisch im Wohnzimmer der Mitgliedsausweis einer Videothek bereit …
Am Samstagmorgen würde sie ein bisschen shoppen gehen. Da sie kein Auto besaß, würde sie sich mit den Läden vor Ort begnügen – obwohl die Großpackungen im Kühlschrank darauf schließen ließen, dass irgendjemand in dem Haus Zugang zu einem Auto haben musste. Christine Jones würde keinen Hunger leiden müssen, an Lebensmitteln mangelte es ihr nicht. Aber es war kein Essen für eine Party, sondern Fastfood, das Zeug, das man in sich hineinstopfte, wenn man die Tage mit Hausarbeit zubrachte und an den Abenden vor der Glotze hockte.
Eine von Christines Mitbewohnerinnen,Tessa, führteTagebuch, und in den neueren Einträgen bekundete sie, soweit sie sich nicht über Garry, dessen Körper und seine Fähigkeiten im Bett ausließ, ihre Sorge über »Chris«, die sich vor einigen Monaten von ihrem Freund getrennt und seitdem offenbar jegliches Interesse an Männern verloren hatte...
»Hoffentlich hat sie ein nettes Wochenende«, endete der Eintrag. Die Hexe war versucht, einen Stift zu nehmen und hinzuzufügen: »Ihr Wochenende wird super werden, jede Wette.«
Doch sie ließ es bleiben.
Als die Post kam, warf sie einen Blick darauf, ohne sie jedoch zu berühren. Nachdem sie sich mit den Gegebenheiten des Hauses vertraut gemacht hatte, verließ sie es so unauffällig, wie sie es betreten hatte und bummelte ganz gemächlich zurück zum Bahnhof. Zeit besaß sie genug...
Bis jetzt. Während sie Christine Jones die Victoria Street entlang folgt, denkt sie nach, hakt in ihrem Kopf einzelne Punkte einer Liste ab. Christine kennt den Wachmann, aber das spielt wahrscheinlich keine Rolle. Ein anderes, weiter unten an der Victoria Street gelegenes Gebäude des Wirtschaftsministeriums würde es auch tun, wenn die Hexe erst einmal im Besitz des Sicherheitsausweises wäre. Sie beobachtet Christines Art, sich zu bewegen, ihren Gang, wie weit sie einen Fuß vor den anderen setzt, die Art, wie sie den Kopf wendet, wenn sie die Straße
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