Kassandra Verschwörung
sie möglicherweise aus ihren Fenstern beobachteten.
Einige Leute hasteten an ihr vorbei. Pendler aus dem letzten Zug, vermutete sie. Sie wirkten abgespannt und bedachten sie lediglich mit einem flüchtigen Blick. Niemand lächelte, niemand sprach sie an oder machte eine scherzhafte Bemerkung. Die Zeit verstrich, ohne dass etwas geschah.
Sie ging zurück zur Ecke, sprintete los und drückte ihre Tragetasche an sich, damit nichts herausfiel. Sie rannte bis zum Gartentor, stieß es auf, stieg geräuschvoll die Treppe hoch und klingelte.
Christine Jones hatte nicht einmal Zeit gehabt, sich den ersten Schokoriegel einzuverleiben, sondern lediglich Jacke und Schuhe ausgezogen, sonst nichts. Sie machte die Tür weit auf und wirkte enttäuscht.
»Habe ich sie verpasst?«, fragte die Hexe keuchend und schnappte nach Luft.
»Wen?«
»Tessa, ich wollte ihr nur noch etwas mitgeben.« Sie zwinkerte. »Fürs Wochenende, wissen Sie.«
»Sie haben sie verpasst«, entgegnete Christine. »Komisch, ich dachte nämlich, dass sie es wäre, weil sie etwas vergessen hat.«
»Oh, Mist!« Die Hexe warf den Kopf zurück und atmete geräuschvoll aus. »Mist, Mist, Mist.« Dann riss sie sich zusammen und grinste. »Entschuldigen Sie bitte, Sie müssen Chris sein. Sie hat mir schon viel von Ihnen erzählt. Ich bin Anna.«
»Hallo, Anna. Dann sind Sie Tessas Büronachbarin? Hören Sie...«, Christine verdrehte die Augen, »wollen Sie nicht reinkommen? Sie sehen aus, als könnten Sie einen Drink gebrauchen.«
»Das kann man wohl sagen. Ich könnte wirklich einen gebrauchen.«
»Ich auch. Immerhin ist Wochenende.«
Christine Jones trat zur Seite und ließ die Hexe ins Haus. Dann schloss sie die Tür. Die Hexe stand da und wartete. »Hier entlang«, sagte Christine, wies ihr mit dem Schokoriegel den Weg und führte sie in Richtung Wohnzimmer. »Sie haben meine Frage noch gar nicht beantwortet – sind Sie Tessas Büronachbarin?«
»In gewisser Weise, ja.«
Als Christine die Wohnzimmertür öffnete, verpasste die Hexe ihr einen kräftigen Schlag auf den Kopf. Christine erstarrte für einen Moment, dann kippte sie vornüber und drehte sich im Fallen auf die Seite, sodass erst ihre linke Schulter und dann der Kopf mit einem lauten Knall auf dem Teppich landete.
Sie konnte sich nicht bewegen und spürte etwas Warmes neben ihrem Gesicht. Unter Qualen schlug sie die Augen auf, das Blut pochte in ihrem Kopf. Im gleichen Moment, in dem sie die Augen öffnete, senkte sich eine Hand auf ihren Mund, der Daumen umklammerte ihr Kinn. Die Hand ließ ihr unter der Nase gerade genug Platz zum Atmen. Sie sah hinauf in die Augen der Frau, die sich mithilfe eines Tricks Zutritt zu ihrem Haus verschafft hatte. Und sie wusste, warum sie sich nicht bewegen konnte.
Die Hexe hatte sie mit grauen Strumpfhosen an ihr Bett gefesselt. Direkt neben dem Bett, hinter dem Nachttisch verborgen, befand sich eine Steckdose. In dem Doppelstecker waren ein Wecker und eine Leselampe eingestöpselt gewesen. Die Hexe hatte den Lampenstecker herausgezogen, stattdessen das Bügeleisen eingesteckt und es voll aufgedreht. Während die eine Hand der Hexe Christine Jones’ Mund zuhielt, umfasste die andere den Griff des Bügeleisens und hielt es Christine direkt vors Gesicht. Die Hexe wandte sich von Christine ab und spuckte auf die Metallfläche des Bügeleisens. Ihre Spucke zischte und brodelte.
»Ein hübsches heißes Bügeleisen«, sagte sie ruhig. »Mit einem heißen Bügeleisen muss man vorsichtig sein. Wenn man es auf den falschen Stoff drückt, kann man damit furchtbaren Schaden anrichten. Wenn man es auf empfindliche Haut drückt, kann man diese unwiederbringlich zerstören.« Christines Nasenflügel blähten sich, während sie hyperventilierend nach Luft rang.
»Ich werde meine Hand jetzt von Ihrem Mund nehmen«, fuhr die Hexe fort. »Sie können schreien, wenn Sie wollten, aber ich fürchte, dass Sie niemand hören wird. Im Haus ist keiner außer uns, die Fenster sind doppelt verglast und fest verschlossen, und Ihr Zimmer liegt im hinteren Teil des Hauses. Also verfügt es über eine massive Außenwand anstelle einer Zwischenwand. Keine Nachbarn, die etwas hören könnten. Verstehen Sie, was ich meine? Wenn Sie schreien, wird Sie niemand hören, und Sie könnten mich erschrecken. Ich könnte das Bügeleisen fallen lassen. Ich glaube nicht, dass Sie schreien werden. Ich will Sie nicht verletzen. Es ist nicht nötig, Ihnen wehzutun. Ich möchte nur, dass Sie mir
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