Kassandra Verschwörung
Parry. Er betrachtete ihr Profil. Klassisch englisch, was auch immer das bedeutete. Die Art und Weise, wie sie ihr Kinn hob, wenn sie vom Bildschirm ablas. Eine lange, relativ gerade Nase, schmale Lippen, kurzes, gepflegtes Haar, mit wenigen grauen Strähnen durchsetzt. Die Augen ebenfalls grau. Sie war eine der Frauen, die mit zunehmendem Alter schöner wurden. Sie tippte erneut etwas ein, prüfte, ob der Drucker eingeschaltet war, und drückte zwei weitere Tasten. Der Laserdrucker verrichtete schnell und leise seine Arbeit. Sie schwenkte zurück zum Hauptschreibtisch und reichte ihm die erste Seite. Er musste sich von seinem Stuhl erheben, um sie entgegenzunehmen. Das Papier war noch warm vom Drucker.
In dem Moment klopfte es an der weit offen stehenden Tür. Parry bedeutete der Sekretärin einzutreten. Sie hatte zwei zum Bersten gefüllte Aktenmappen dabei, die von wie Schnürsenkel aussehenden Bändern zusammengehalten wurden.
»Danke, Angela, legen Sie sie mir auf den Schreibtisch.« Joyce Parry nahm zwei weitere Seiten aus dem Drucker. Barclay versuchte, sich auf das Blatt in seiner Hand zu konzentrieren, doch es fiel ihm schwer, nicht auf die beiden Aktenmappen zu starren, die Unterlagen eines Mannes namens Elder. Der Name stieß in seinem Gedächtnis definitiv etwas an, doch jetzt war nicht die Zeit, darüber nachzugrübeln. Joyce Parry begann, die Bänder zu lösen, während Barclay die lasergedruckte Seite las.
Der Bericht war sechs Jahre alt und ursprünglich von der CIA erstellt worden, bevor er »zur Information« an die britischen Behörden weitergeleitet worden war. Was Barclay in den Händen hielt, war eine Zusammenfassung, erstellt von D. Elder.
»Am 16. Mai«, las er, »verließ ein kleines Fischerboot den südkoreanischen Hafen Pusan. Sechs Mann an Bord. Im Hafen bekannt und beliebt. Kein Hinweis, dass die Bootsmannschaft zuvor in irgendwelche illegalen Handlungen verwickelt war, wobei für die meisten Bootsführer in der Region Schmuggeln als über dem Gesetz stehend gilt.
Am 17. Mai wurden auf Mishima, einer den japanischen Hauptinseln vorgelagerten Insel, Trümmer und Leichen (sechs) angeschwemmt. Zuvor wurde berichtet, dass das Boot in der Nähe der japanischen Küstenstadt Susa gesichtet worden sei. Unklar, was das Boot in dieser Gegend zu suchen hatte. Schiffskapitän und zugleich Eigner ein erfahrener Seemann. Ausmaß des Schadens legt nahe, dass das Schiff eher explodiert als mit etwas zusammengestoßen oder auf Grund gelaufen ist. Jedoch keine Meldung, dass jemand eine Explosion gesehen oder gehört hat. (Südasiatische Ohren und Augen nicht immer zuverlässig. Zur Erinnerung: Für diese Leute stellen Piraten immer noch eher ein Berufsrisiko dar, als dass sie einem 1930er Errol-Flynn-Film entstammen.)«
Barclay lächelte und begann mit der zweiten Seite.
»Ermittlungen wurden von japanischen und südkoreanischen Behörden durchgeführt. Bis zum Datum der Erstellung dieses Berichts fand man keine weiteren Beweise. In Pusan gab es jedoch Gerede über eine junge Frau, die ein paar Tage vor der letzten Ausfahrt des Boots mit dem Schiffseigner in einer Kneipe gesprochen haben soll. Sie wird als groß beschrieben, mit dunklem, kurzem Haar, wahrscheinlich englischsprachig.
Vom 18. bis 20. Mai Internationale Weltfriedenskonferenz (IWFK), ausgerichtet an verschiedenen Veranstaltungsorten in Hiroshima, Japan. Konferenzteilnehmer 240 Delegierte aus 46 Staaten zuzüglich eingeladene Gäste (z.B. Vertreter japanischer Universitäten und Medien) sowie zu einigen Veranstaltungen die allgemeine Öffentlichkeit. Medien der ganzen Welt zu der Konferenz eingeladen. Unter denen, die die Einladung annahmen, vier Geheimagenten. (Siehe Akte Nr. CI/46377/J/DE). Im Lauf der Konferenz sechs besonders in den Vordergrund gestellte programmatische Hauptvorträge. Andere Aktivitäten: Filmvorführungen, eine Kunstausstellung, Theateraufführungen und ein Konzert des Projekts Music for Peace (Letzteres mit Hauptsitz in London, überprüft 1984: siehe Akte Nr. UK/0/223660/L/JP).«
JP: Joyce Parrys Initialen. Barclay dämmerte allmählich, worum es hier ging. Seine Hände wurden feucht und klebten am Papier, während er weiterlas.
»Am Schlusstag, dem 20. Mai, sollte der international bekannte Friedensaktivist Jerome Hassan (CI/38225/USP/DG) den letzten herausragenden programmatischen Vortrag halten. Mr. Hassan erkrankte jedoch; es bestand Verdacht auf eine Lebensmittelvergiftung. Seine Rede musste von einem
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