Kassandra Verschwörung
hightechmäßig hielten, als dass sie sich damit beschäftigen müssten. Diese Spezies gehörte in diese alten Spionagekrimis, die ungelesen in irgendwelchen Secondhand-Buchhandlungen vor sich hin moderten.
»Was denken Sie gerade?«, fragte Elder und riss Barclay aus seinen Gedanken.
»Oh, ich habe mich nur gefragt, wo Ihre Frau ist.«
»Warum?«
»Aus Neugier, nehme ich an.«
»Wir sind getrennt. Schon seit Jahren. Wir haben aber nicht die Absicht, uns scheiden zu lassen. Es ist irgendwie komisch, wenn wir nicht zusammenleben, kommen wir prima miteinander klar. Wir verabreden uns zum Essen oder gehen ins Theater.«
»Und Sie tragen immer noch den Ring?«
»Warum nicht?«
Barclay fiel ein kleines gerahmtes Foto auf, das er auf einem der Regale entdeckt hatte. Er stand auf, um es besser betrachten zu können. Ein kleines, in Pastellfarben gekleidetes Mädchen. Ein breites Zahnlückengrinsen und kurz geschnittenes schwarzes Haar. Das Foto wirkte alt. Er wartete darauf, dass Elder etwas sagte, doch Elder schwieg.
»Ihre Tochter?«, fragte Barclay.
Elder nickte. »Sie ist gestorben.«
Barclay stellte das Foto vorsichtig zurück an seinen Platz. »Tut mir leid«, sagte er. »Wie ist sie...«
»Also«, fiel ihm Elder ins Wort, »wie geht es Joyce Parry?«
»Gut«. Barclay setzte sich.
»War schön, mal wieder von ihr zu hören. Wir haben unseren Kontakt leider schleifen lassen.« Eine Pause. »War ein Fehler. Haben Sie es schon herausgefunden?«
»Was?«
Elder grinste. »Etwas, das wir uns alle gefragt haben: ob sie ein Wolf im Schafspelz ist oder ein Schaf im Wolfspelz ist.«
Barclay erwiderte das Grinsen. »Läuft doch beides aufs Gleiche hinaus, oder?«
»Nicht, wenn der Pelz abgelegt wird.« Elder nippte erneut an seinem Bier. »So«, fuhr er fort und klang plötzlich geschäftsmäßig, »Sie sind hier, um mir etwas zu erzählen.«
»Äh, ja.«
»Etwas über die Hexe.«
»Das wissen wir noch nicht, falls die Hexe überhaupt existiert...«
»Sie existiert.«
»Sie?«
»Ja, sie, Mr. Barclay. Eine einzelne Frau.«
»Ich dachte, es stünde eine Gruppe dahinter.«
Elder schüttelte den Kopf. »Das vermutete unsere Abteilung damals auch. Joyce glaubt bis heute daran. Aber es ist keine Gruppe, Mr. Barclay, es ist eine einzelne Person, eine Killerin.«
»Eine Frau?«
»Eine Frau.«
»Wegen des Hiroshima-Attentats?«
»Nein, nicht nur deswegen. Hiroshima war nur ihr Einstieg. Und jetzt ist etwas Ähnliches passiert?«
»Zwei Schiffe, eins auf jeder Seite des Ärmelkanals...«
»Ja, Joyce hat es mir erzählt. Eins vor Calais, das andere in der Nähe von Folkestone.«
»Die Kassandra Christa .«
»Wie bitte?«
»Das englische Schiff, es hieß Kassandra Christa .«
»Kassandra... erstaunlich.«
Barclay konnte nicht folgen. »Kennen Sie es?«
Doch Elder schüttelte den Kopf. »Ich meinte die Parallele. Sie haben wohl keine klassische Erziehung genossen, Mr. Barclay?«
Barclays Stimme war so kalt wie sein Drink. »Anscheinend nicht.«
»Kassandra«, erklärte Elder, »war die Tochter des Priamos, des Königs von Troja. Der Gott Apollon verlieh ihr die Gabe der Vorsehung... fügte jedoch hinzu, dass dieser nie jemand Glauben schenken werde.«
Barclay nickte und lächelte. »Und Sie sind Kassandra, Mr. Elder?«
»In unserem aktuellen Fall ja, vielleicht«, entgegnete er mit einem verschmitzten Augenzwinkern. Er machte eine kurze Pause. »Mr. Barclay, wissen Sie, warum Joyce Sie zu mir geschickt hat?«
Barclay holte tief Luft. »Um ehrlich zu sein und unter uns gesagt – nein.«
»Ich auch nicht. Aber ich bin neugierig, das muss ich gestehen. Ermittelt die Special Branch im Fall der versenkten Schiffe?«
»Ja.«
»Sie tippen sicher auf einen Waffentransport. Glaubhaftes Szenario. Irgendwie seltsam, falls die Hexe wirklich dahintersteckt...«
»Ja?«
»Sie lernt schnell dazu, Mr. Barclay. Deshalb konnte sie so lange überleben. Wir haben seit Jahren nichts mehr von ihr gehört. Ich habe schon geglaubt, sie hätte sich vielleicht zur Ruhe gesetzt. Doch jetzt ist sie wieder da und teilt es uns laut und unmissverständlich mit. Normalerweise zieht sie eine bestimmte Nummer nur einmal ab. Sie hat sich noch nie zweimal der gleichen Vorgehensweise bedient. Sie geht ständig anders vor, um sich Zutritt zu irgendwelchen Ländern zu verschaffen und sie wieder zu verlassen; sie verwendet immer wieder neue Maskierungen und tötet ihre Opfer auf unterschiedliche Weise. Doch jetzt scheint sie sich
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