Kassandra Verschwörung
Wahl ›seltsam‹?«
»Die meisten Familien mit Kindern fahren nach Blackpool oder Morecambe. Ich habe Southport immer als sehr... abweisend empfunden. Konnte man dort denn viel unternehmen?«
Sie kamen jetzt an die Haustür, die offen stand. Elder ging hinein und weiter einen engen Flur entlang. »Ich kann mich nicht mehr erinnern«, erwiderte Barclay. »Es soll Leute geben, die behaupten, im ländlichen Wales gebe es auch nicht viel zu unternehmen.«
»Diese Leute haben recht.« Am Ende des Flurs betrat Elder die Küche, ging ans Spülbecken und wusch sich die Hände. Barclay, der ihm gefolgt war, blieb in der Tür stehen. Er fühlte sich unbehaglich. »Deshalb bin ich hier«, fuhr Elder fort. »Um meinen Lebensabend zu genießen.«
»Lebensabend? Aber Sie sind doch erst...«
»Fünfzig. Wie ich sagte: Lebensabend. In unserem Beruf jedenfalls.«
Unserem . Barclay hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass Elders Feindseligkeit ein wenig nachließ.
»Beherzigen Sie meinen Rat, Mr. Barclay. Peilen Sie an, sich mit fünfzig zur Ruhe zu setzen. Vielleicht auch schon mit fünfundvierzig. Ich weiß, das erscheint Ihnen in weiter Ferne. Wie alt sind Sie? Ende zwanzig?«
»Fünfundzwanzig.«
»Fünfundzwanzig also. In ein paar Jahren werden Sie erste Veränderungen spüren. Sie werden feststellen, dass sich Ihr Reaktionsvermögen verschlechtert – beinahe unmerklich, aber mit dem entsprechenden Gerät können Sie das messen. Sie fangen an, Wehwehchen zu bekommen, ein Zwicken hier, ein Zwacken da. Testen Sie Ihr Gedächtnis auf Schnelligkeit und Erinnerungsvermögen. Wiederholen Sie den Test etwa alle sechs Monate, und zeichnen Sie den allmählichen Verfall auf.«
»Sehr ermutigend.«
Elder trocknete sich die Hände an einem Geschirrtuch ab und schüttelte den Kopf. »Nein, ermutigend ist das nicht. Doch wenn Sie sich Ihrer Grenzen bewusst sind, trägt das vielleicht irgendwann dazu bei, Ihr eigenes Leben zu retten. Oder, noch wichtiger, das Leben anderer. Denken Sie darüber nach. Halten Sie sich vor Augen, was unser Beruf mit sich bringt. Das ist alles, was ich Ihnen sagen will.« Er langte hinter sich und rieb sich nachdenklich den Rücken. »Tee? Oder lieber ein Bier?«
»Etwas Kaltes wäre prima.«
»Ich glaube, ich habe ein paar Flaschen im Kühlschrank. Wir können uns zwei mit ins Wohnzimmer nehmen. Da ist es kühler.«
Kühler und dunkler. Fenster befanden sich nur an der Rückseite und an der Seite des Cottages und waren teilweise mit Efeu überwuchert. Das Wohnzimmer sah klein und gemütlich aus. Es wirkte unordentlich und viel genutzt, wie ein Lieblingspullover. Die Wände waren weiß gestrichen, an einer befanden sich mehrere Bücherregale aus Spanholz und Kunststoff, die wegen des Gewichts der Bücher ziemlich durchhingen. Auf einem niedrigen Tischchen mit einer gekachelten Tischplatte standen diverse Flaschen: Gin, Pimm’s, Whisky, Wodka, alle voll oder fast voll. Die Fensterbänke und einige der sonstigen Regale waren mit allem möglichen Schnickschnack vollgestellt. Außerdem gab es in dem Raum einen Fernseher, einen Videorecorder, eine Stereoanlage, eine halbe Wand mit Klassik-LPs, ein Sofa und zwei Sessel. Elder steuerte einen der Sessel an. Wieder machte er keine Anstalten, Barclay bei seiner Entscheidung zu helfen. Sollte er sich in dem anderen Sessel niederlassen oder auf dem Sofa? Er entschied sich für den Sessel, ließ sich langsam hineinsinken und blickte sich anerkennend in dem Zimmer um. Ja, es war gemütlich. Aber auch staubig. An den Stellen, an denen die Beine der Sessel oder der Regale auf dem Teppich standen, zeichneten sich Staubränder ab. Der Videorecorder war mit einer Staubschicht bedeckt, ebenso die Vorderseite der Stereoanlage.
Na gut, dachte Barclay, versuchen wir, ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Er nahm einen kräftigen Schluck von seinem kalten Bier und sagte: »Sie sind nicht verheiratet, Mr. Elder?«
Doch Elder nickte. Er wedelte Barclay mit der linken Hand zu. Auf dem Ringfinger steckte ein Ehering. »Haben Sie den übersehen? Tja, für solche Dinge haben Sie heutzutage wohl Computer.«
Barclay verstand jetzt, was Joyce Parry meinte, als sie von Elder sprach, als wäre er ein Dinosaurier aus einer lange zurückliegenden Zeit. Er hatte erst vor zwei Jahren den Dienst quittiert, doch seine Ansichten muteten wie aus der Steinzeit an. Barclay war solchen Typen schon öfter begegnet, diesen Höhlenbewohnern, die das Knacken des Enigma-Codes für zu
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