Kassandra Verschwörung
weitertranken. Aber nicht am Sonntag. Aufgrund irgendeiner Tradition war der Sonntag heilig, und der Pub wurde um Punkt halb elf geschlossen. Was Henrik ganz gut in den Kram passte, denn er hatte Nessa angeboten, sie nach Hause zu fahren, und sie hatte lachend eingewilligt.
»Dabei sind es nur fünf Minuten zu Fuß«, hatte sie hinzugefügt.
»Na ja, wir können ja einen kleinen Umweg nehmen.«
Sie hatte darauf nichts erwidert. Er hatte mit laufendem Motor und eingeschalteter Stereoanlage draußen in dem geliehenen Ford Scorpio gewartet. Sie hatte sich von ihrem Barkeeperkollegen verabschiedet, der die Tür abschloss, und spazierte beschwingten Schritts zur Bürgersteigkante. Henrik war bereits aus dem Auto ausgestiegen und hielt ihr die Beifahrertür auf. Sie sah ihn belustigt an.
»Danke schön, mein Herr, sehr freundlich«, sagte sie.
Er setzte sich wieder hinters Steuer. »Wo soll’s denn hingehen?«, fragte er.
»Nach Hause natürlich.«
»Auf direktem Weg?«
Sie sah ihn erneut belustigt an. »Nicht unbedingt.«
Sie hielten an einer Weide, die direkt an der in Richtung Süden führenden, doppelspurigen Schnellstraße lag, und blieben dort etwa eine halbe Stunde. Sie unterhielten und küssten sich und stellten sich auch dann noch so unbeholfen wie Teenager an, als sie die Sitze heruntergekurbelt hatten. Schließlich lachte sie wieder und löste sich aus seiner Umarmung.
»Ich sollte jetzt wohl besser nach Hause. Meine Mutter macht sich sonst Sorgen.«
Er nickte. »In Ordnung.« Abgesehen von ihren Wegerklärungen schwiegen sie während der Fahrt, bis sie an einen steinernen Bungalow kamen.
»Da wohne ich. Danke fürs Bringen.«
»Nächste Woche bin ich wahrscheinlich wieder da. Wollen wir dann zusammen essen gehen?«
»Essen gehen?«
»Ja, im Hotel, wenn du möchtest.«
»Hängt davon ab, welche Schichten ich übernehmen muss.«
»Vielleicht könnte ich dich ja im Pub anrufen?«
Sie überlegte einen Moment. »Ja gut«, sagte sie. »Mach das.«
»Gute Nacht, Nessa.« Er zog sie an sich heran und wollte ihr einen Abschiedskuss geben, doch sie entwand sich ihm und sah zum Haus.
»Meine Mutter könnte aus dem Fenster gucken. Gute Nacht, Henrik.« Sie drückte ihm ein flüchtiges Küsschen auf die Wange. Er schaute ihr nach, wie sie das Tor öffnete und wieder schloss, ihm noch einmal zuwinkte und die Treppe zur Haustür hinaufstieg. Er meinte zu sehen, dass in einem der unbeleuchteten Fenster ein Vorhang zugezogen wurde. Das Licht im Flur ging jetzt an. Sie schloss leise die Tür hinter sich. Henrik legte den Gang ein und brauste los. Am Ende der Straße nahm er Barry Manilow aus dem Kassettenrecorder, schob eine Heavy-Metal-Kassette ein und drehte die Lautstärke voll auf. Er fuhr eine Weile mit offenem Fenster durch die dunklen, verlassenen Straßen von Auchterarder und grinste in sich hinein. Dann fuhr er nach Hause. Zweifellos musste er gleich die Lustschreie aus Khans Zimmer ertragen, all das Ächzen und Stöhnen. Er fragte sich, ob es nur eine Schau war, vielleicht sogar aufgenommen. Oder dazu bestimmt, ihn zu beeindrucken? Oder kapierten sie einfach nicht, dass er Ohren hatte?
Allerdings war Khans aktueller Fang eine ausgesprochene Schönheit. Wie sie Henrik immer ansah... und wie sie ihn berührte, als wollte sie sich vergewissern, dass er wirklich aus Fleisch und Blut war und nicht nur ein Hirngespinst. Ja, vielleicht könnte er ja Khans Platz einnehmen, wenn der mit ihr fertig war. Er wusste, wo sie in London arbeitete. Er wusste, wo sie wohnte. Er könnte einfach mal zufällig vorbeischneien. Er war sich ziemlich sicher, dass sie es mit ihm noch lauter treiben würde als mit Khan. Ja, da war er sich verdammt sicher. Sein Grinsen war noch breiter, als er das Tor des von einer Mauer umgebenen, freistehenden Hauses passierte.
Er schloss das hohe Metalltor hinter sich ab. Der Koch würde schon lange weg sein. Es gab keine Spur von einem anderen Wagen. Eine kurze Kiesauffahrt führte zur Vorderseite des Hauses. Das ganze Gebäude schien dunkel. Dabei war es erst zehn vor zwölf. Vielleicht waren sie schon fertig und schliefen. Vielleicht musste er sich heute Nacht nicht mit Wodka zudröhnen. Er ließ das Auto am oberen Ende der Auffahrt stehen, anstatt es in die kleine Garage zu fahren, blieb noch einen Augenblick an die Karosserie des Wagens gelehnt stehen und lauschte in die Stille. Er hörte das Rascheln der Bäume, in der Ferne den Ruf eines Vogels und sogar das Quaken von Fröschen.
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