Kassandra Verschwörung
zur Musik aufs Lenkrad.
»In Ihrem Zimmer«, rief sie, »habe ich Ihre Kassetten gesehen – klassische Musik.«
»Opern«, korrigierte er.
Sie rümpfte die Nase. »Jazz«, sagte sie, »ist die einzig wahre Musik auf der Welt, und Paris ist die Hauptstadt des Jazz.« Sie setzte den Blinker, schaltete in den dritten Gang runter und scherte aus, um scheppernd einen weiteren Lastwagen zu überholen.
In Paris fuhren sie als Erstes in ihr Büro. Barclay blieb im Auto sitzen, während sie in das Gebäude stürmte und kurz darauf wieder herausgeeilt kam. Sie warf ihm eine Aktenmappe auf den Schoß, schlug seine Hand vom Radio (er hatte versucht, einen Klassiksender zu finden) und knallte die Fahrertür zu. Dann betätigte sie den Blinker und ordnete sich mit kreischenden Reifen wieder in den Verkehr ein. Um sie herum wurde von allen Seiten gehupt.
»Sie hatten sie am Empfang für mich bereitgelegt«, sagte sie und meinte die Akte. »Lesen Sie vor, was drinsteht, während ich fahre.«
Also las er in seinem gestelzten Französisch den Bericht vor, dankbar, dass das Lesen ihn zwang, nicht mit ansehen zu müssen, welcher Wahnsinn ihn umgab. Mittagszeit in Paris. Er war schon einige Male am Wochenende in Paris gewesen und hatte auch da schon die Fähigkeit der hiesigen Autofahrer bewundert, auf einer dreispurigen Straße fünf Autos nebeneinander zu quetschen, ohne zusammenzustoßen. Während er vorlas, übersetzte Dominique einige der schwierigeren Passagen ins Englische. Als er den Bericht über das Leben und den beruflichen Werdegang des Cartoonisten Jean-Claude Separt beendet hatte, bogen sie in eine enge Straße ein, die auf beiden Seiten von hohen Gebäuden gesäumt wurde, die das Licht und einen Großteil des Stadtlärms schluckten. In den Erdgeschossen der Häuser befanden sich Geschäfte und Büros, schmuddelig aussehende Läden mit ungeputzten Fenstern. Doch in den Stockwerken darüber gab es Wohnungen, einige mit kleinen Balkonen und alle mit verstaubten Fensterläden, von denen die Farbe abblätterte und an denen vereinzelt Leisten fehlten oder herabhingen. Dominique parkte den 2CV neben einem ehrwürdig aussehenden, tiefliegenden Citroën.
»Kommen Sie«, sagte sie.
»Wohin?«
Sie deutete nach oben. »Da wohne ich... Das ist mein Zuhause. Ich muss mich umziehen.« Sie zupfte an ihrer Jeansjacke und lächelte. »Kommen Sie mit?«
Er nickte. »Klar«, sagte er. Sein Herzschlag beschleunigte sich ein wenig. »Klar«, wiederholte er und stieg aus dem Wagen.
»Es gibt nur Treppen«, warnte sie ihn. »Keinen Aufzug.«
Im Treppenhaus roch es wie in der Londoner U-Bahn. Er konnte sich nicht erklären, warum. Es roch nach verbranntem Öl, durchdrungen von einem Hauch Feuchtigkeit und Fäulnis. Er hatte das Gefühl, wenn er die dunkelgrünen Wände berührte, würde etwas davon an seinen Fingern haften bleiben.
Er ging hinter Dominique her und trug ihren kleinen Koffer. Während sie die sich windende Treppe emporstieg, musterte er sie von hinten.
»Das nächste Stockwerk«, sagte sie ein wenig atemlos.
»Alles klar«, entgegnete er. Aber es war überhaupt nicht alles klar. Ihr Koffer war schwerer als gedacht. Was hatte sie da bloß drin? Maschinenpistolen?
Und dann standen sie vor einer verzierten Wohnungstür und sahen einander an. Sie lächelte und schöpfte Atem. Er erwiderte das Lächeln, und versuchte nicht zu zeigen, wie sehr er nach dem Aufstieg aus der Puste war. Sie holte einen Schlüssel aus ihrer Tasche und öffnete die Tür.
Er blickte auf einen gepflegten, wenn auch altmodischen Flur. Der Teppich war verblichen, ebenso die Möbel. Dudelte da nicht irgendwo ein Radio im Hintergrund?
» Mama! «, rief Dominique. »C’est moi.«
Sie nahm ihm forsch den Koffer aus der Hand und ging den Flur entlang.
»C’est toi, Dominique?« , erwiderte eine zittrige Stimme hinter einer der Türen. Barclay stand immer noch im Flur und verarbeitete die Überraschung. Dominique bedeutete ihm, ihr zu folgen, und öffnete am Ende des Flurs eine Tür.
Im Wohnzimmer saß Madame Herault. Doch sie stand auf, um den ihr unbekannten Besucher zu begrüßen, und schaltete auch das Radio aus. Sie sah aus wie ihre Tochter, nur dreißig bis vierzig Jahre älter. Sie zupfte ihre Frisur zurecht und beschwerte sich bei Dominique, dass sie ihr hätte Bescheid geben sollen, worauf Dominique erwiderte, dass dies nur dazu geführt hätte, dass ihre Mutter sich Umstände gemacht hätte, wo sie doch höchstens fünfzehn Minuten
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