Kassandra Verschwörung
mitten am Tag trinken?«, wies sie ihn zurecht. »Vergessen Sie nicht, Michael, wir haben jede Menge zu tun.« Dann redete sie in wasserfallartiger Geschwindigkeit auf ihre Mutter ein, und diese antwortete in abwechselnd steigender und fallender Tonlage in noch schnellerem Französisch. Während Mutter und Tochter ihre Unterhaltung fortsetzten, leerte er sein Glas und registrierte, dass Dominique ihn hin und wieder mit einem Blick bedachte. Als er sein leeres Glas zurück aufs Tablett stellte, bedeutete sie ihm mit einer kaum merklichen Kopfbewegung, dass es Zeit war aufzubrechen. Was gar nicht so leicht ging, da Madame Herault ihm offenbar noch jede Menge zu erzählen hatte und Hände zu schütteln und Wangen zu küssen waren.
»Oui, Mama, oui« , wiederholte Dominique jetzt zunehmend genervt. Schließlich waren sie an der Haustür, und nach einem letzten Schubser von Dominique fand Barclay sich auf der Treppe wieder und begann hinabzusteigen. Doch Madame Herault folgte ihnen auf den Treppenabsatz und rief ihrer Tochter weitere Anweisungen nach.
»Oui!« , rief Dominique zurück. »Bien sûr! D’accord. A ce soir, Mama! Ce soir!»
Die düstere, klaustrophobisch wirkende Straße schien auf einmal ein willkommener Zufluchtsort zu sein. Selbst Dominique seufzte und fächerte sich mit der Hand Luft zu, bevor sie wieder ins Auto stieg. Sie sagte nichts, während sie den Motor startete, vergewisserte sich, dass hinter ihr frei war, und fuhr los. Als sie sich am Ende der Straße in den Verkehr einfädelte, bemerkte sie nur: »Das war meine Mutter.«
»Tatsächlich?«, erwiderte Barclay.
Die Ironie entging ihr. »Ja, tatsächlich.«
»Sie ist charmant. Wie ihre Tochter.«
Dominique schürzte die Lippen. »Ich hätte Sie warnen sollen.«
»In der Tat.«
Sie lachte. »Erzählen Sie mir, Mr. Michael Barclay, was haben Sie erwartet?«
»Wann?«
»Als ich Sie die Treppe hochgeführt habe.«
»Ich habe mich gefragt, warum es im Treppenhaus so riecht wie in der Londoner U-Bahn.«
Die Antwort überraschte sie. »Ehrlich?«, fragte sie.
Er nickte. »Genau das habe ich gedacht«, sagte er und hielt seinen Blick auf die Windschutzscheibe gerichtet, schön weg von ihren nackten, gebräunten Beinen, die die Bremse, die Kupplung und das Gaspedal bedienten.
»Mama hat Ihnen zwei Küsschen gegeben«, überlegte
Dominique laut. »Ich glaube, Sie haben einen Eindruck gemacht.«
»Eindruck auf sie gemacht«, korrigierte Barclay.
»Wie auch immer«, meinte Dominique mit einem Lächeln, »jedenfalls haben Sie Eindruck gemacht.« Und dann brach sie plötzlich in heiteres Gelächter aus.
Kurioserweise sah Jean-Claude Separts Wohnung, die zugleich als sein Atelier diente, genau so aus, wie Barclay sich Dominiques Wohnung vorgestellt hatte. Es war offensichtlich, dass Cartoonisten, sogar – oder erst recht? – linke Cartoonisten, in Frankreich ein komfortables Leben führen konnten. Die Wohnung nahm das gesamte obere Geschoss eines sandgestrahlten Blocks ein, der in der Nähe des Odeons lag.
»Très chic, très chic« , sagte Dominique immer wieder, während sie mit dem Aufzug in die Penthousewohnung hinauffuhren. Sie hatten während ihrer Fahrt nach Paris über Separt gesprochen, sich die ungezieferbefallene Dachkammer vorgestellt, die er wahrscheinlich bewohnte und in der sich seine unverkäuflichen Werke vermutlich bis unter die Decke stapelten. Eine zweite vorgefasste Meinung musste an diesem Tag verworfen werden.
Barclay kannte seine Rolle. Er war Dominiques Kollege, ein Polizeibeamter aus England (aber nicht aus London; aus keiner so bedeutenden Stadt), der an einem Austauschprogramm teilnahm und Dominique einen Tag lang begleitete. Sie ihrerseits war nur eine einfache Polizeischülerin, die gerade Station in einer der Verwaltungsabteilungen machte. Sie waren gekommen, um Monsieur Separt wegen seines gestohlenen Wagens zu befragen, soweit er verstanden hatte, für irgendein Verzeichnis zur Erfassung an den Eigentümer zurückgeführter Autos. Jedenfalls etwas in der Art. Dominique hatte ein paar Fragen vorbereitet und auf ein Blatt Papier geschrieben, das auf einem Klemmbrett befestigt war. Ihr Aussehen passte zu ihrer Rolle, fand Barclay. Ihre adrette, praktische Kleidung war vielleicht ein bisschen zu adrett und praktisch – die Art Kleidung, die eine Auszubildende tragen würde, um den Eindruck zu vermitteln, dass sie nicht immer eine Auszubildende sein würde. Und sie hatte auf Lippenstift verzichtet, sodass
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