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Kassandra

Kassandra

Titel: Kassandra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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in mich hineingefressen, ich konnte es nicht mehr loswerden.
    Arisbes Hütte, wie armselig, wie klein. Hier hatte der große starke Aisakos gelebt? Die würzigen Düfte, die Kräuterbündel an Decke und Wänden, über dem offenen Feuer in der Mitte ein dampfender Sud. Die Flamme flackerte und rauchte, sonst herrschte Dunkelheit. Arisbe weder freundlich noch unfreundlich, ich aber war Freundlichkeit gewöhnt und brauchte sie noch. Ohne zu zögern gab sie mir die Auskünfte, nach denen ich verlangte. Ja: Aisakos sei es gewesen, mein Halbbruder, der gottbegnadete Seher, der vor der Geburt jenes Knaben, den sie jetzt Paris nannten, verkündete: Auf diesem Kind liege ein Fluch. Aisakos! Derselbe harmlose Aisakos, auf dessen Schultern ich geritten war? Arisbe, ungerührt: Aber ausschlaggebend sei natürlich der Traum der Hekabe gewesen. Die nämlich hatte, wenn ich Arisbe glauben konnte, kurz vor der Geburt des Paris geträumt, sie gebäre ein Holzscheit, aus dem unzählige brennende Schlangen hervorkrochen. Dies hieß nach der Deutung des Sehers Kalchas: Das Kind, das Hekabe gebären sollte, werde ganz Troia in Brand stecken.
    Unerhörte Nachrichten. Wo lebte ich denn.
    Arisbe, das massige Weib am Feuer, im stinkenden Topf rührend, fuhr fort mit ihrer Trompetenstimme: Allerdings sei des Kalchas Deutung nicht unwidersprochen geblieben. Auch ihr selbst sei dieser Traum der schwangeren Königin unterbreitet worden. Von wem! warf ich hastig ein, und sie erwiderte flüchtig: VonHekabe. Sie habe ihm nach reiflichem Überlegen eine andre Wendung geben können. Nämlich, fragte ich schroff, ich glaubte selbst zu träumen: Hekabe die Mutter in Angstträumen, die sie unter Umgehung des offiziellen Orakelsprechers der früheren Nebenfrau ihres Mannes, des Königs, unterbreitet – ja waren sie alle verrückt? Oder vertauscht, wie ich es als Kind so oft gefürchtet hatte? – Nämlich daß dieses Kind, sagte Arisbe, dazu bestimmt sein könnte, die Schlangengöttin als Hüterin des Feuers in jedem Hause wieder in ihre Rechte einzusetzen. Meine Kopfhaut zog sich zusammen, es mußte gefährlich sein, was ich mit anhörte. Arisbe lächelte, da wurde ihre Ähnlichkeit mit Aisakos schmerzhaft. Ob ihre Deutung König Priamos gefallen habe, wisse sie nicht. Mit diesem Rätselsatz entließ sie mich. Was hat alles geschehen müssen, eh diese Hütte mein wirkliches Heim geworden ist.
    Jetzt mußte ich mich doch noch an den Vater wenden. Es war dahin gekommen, daß ich mich melden lassen mußte wie jeder andre. Einer der jungen Leute, die mir seit Wochen nachgestiegen waren, stand jetzt, schweigsam und deutlich, vor Priamos’ Tür. Wie hieß dieser doch? Eumelos? Ja, sagte Priamos, ein fähiger Mann. Er gab sich beschäftigt. Zum erstenmal kam mir der Gedanke, die Vertraulichkeit zwischen uns beruhe, wie so oft zwischen Männern und Fraun, darauf, daß ich ihn kannte und er mich nicht. Er kannte sein Wunschbild von mir, das hatte stillzuhalten. In voller Tätigkeit hatte ich ihn immer gern gesehn, unsicher und seine Unsicherheit hinter Geschäftigkeit verbergend nicht. Herausfordernd nannte ich Arisbes Namen. Priamos fuhr auf: Intrigierte seine Tochter gegen ihn?Schon einmal habe es im Palast eine Weiberintrige gegeben, damals vor des Paris Geburt. Die einen hätten ihn beschworen, das gefährliche Kind beiseite zu schaffen, die andern, natürlich Hekabe dabei, wollten gerade diesen Sohn als zu Höherem auserwählt retten. Zu Höherem! Also zum Anwärter auf den Thron des Vaters, was denn sonst.
    Der Satz zerriß mir ein Gespinst vor den Augen. Endlich begriff ich, was ich als Kind aufgenommen hatte: verschlossene oder verstörte Mienen, ein Ring von Ablehnung, ja Abscheu um den Vater, den ich bewußt durchbrach: Lieblingstochter! Die Entfremdung von der Mutter, Hekabes Verhärtung. Und nun? Paris lebte. Ja, sagte Priamos. Der Hirte hat es nicht über sich gebracht, ihn zu töten. Ich wette, daß er von den Frauen bestochen war. Gleichviel. Lieber mag Troia fallen, als daß mein wunderbarer Sohn sterben sollte.
    Ich war verblüfft. Was plusterte er sich auf? Und wieso sollte Troia fallen, wenn Paris lebte? Und hat der König die Zunge eines Hundes, die ihm der Hirte als Beweisstück gebracht, wirklich nicht von der eines Säuglings unterscheiden können? Ein aufgeregter Läufer meldete die Ankunft des Menelaos, König von Sparta, sein Schiff war es also gewesen, dessen Annäherung wir seit dem Morgengrauen beobachteten. Hekabe kam herein, in

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