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Kassandra

Kassandra

Titel: Kassandra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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erwähnt. Ich trug ihn manchmal, trag ihn noch. Sein Gegenstück sah ich vorhin am Hals der Klytaimnestra, sie sah an meinem Hals das Gegenstück des ihren. Mit der gleichen Geste griffen wir danach, blickten uns an, verstanden uns, wie nur Frauen sich verstehn.
    Ich fragte Panthoos beiläufig: Welche Tochter? – Iphigenie, sagte er. – Und es ist wahr, was man vonihr erzählt? – Ja. Er hat sie geopfert. Euer Kalchas hat es ihm befohlen.
    Sie handeln übereilt und töricht. Glauben das Unglaubliche, tun, was sie nicht wollen, und betrauern selbstmitleidig ihre Opfer.
    Wieder diese Angst.
    In der Zitadelle waren neue Truppen aus entlegenen Provinzen eingetroffen, häufig sah man jetzt schwarze und braune Gesichter in den Straßen, Trupps von Kämpfern hockten überall um Lagerfeuer, auf einmal war es nicht mehr ratsam für uns Frauen, alleine unterwegs zu sein. Wenn man es recht betrachtete – nur traute niemand sich, es so zu sehn –, schienen die Männer beider Seiten verbündet gegen unsre Frauen. Entmutigt zogen die sich in die winterlichen Höhlen der Häuser, an die glimmenden Feuer und zu den Kindern zurück. Im Tempel beteten sie mit einer Inbrunst, die mir nicht gefiel, weil ihnen unser Gott Apoll Ersatz sein sollte für gestohlenes Leben. Ich hielt es nicht mehr aus. Durchs Priesterinnenkleid geschützt, ging ich wieder zu Anchises. Immer war es, wenn ich nach langer Pause zu ihm kam, als hätte ich die Besuche bei ihm niemals unterbrochen. Zwar ein paar junge Frauen, die mir fremd waren, standen auf und gingen, wie selbstverständlich, ohne Verlegenheit, aber es schmerzte doch. Anchises hatte gerade angefangen, diese großen Körbe zu flechten, alle nahmen das als Marotte, aber nun, Aineias, da ihr unterwegs seid: Worin hättet ihr eure Vorräte verstauen solln; worin hättest du deinen Vater tragen können, der so leicht geworden ist, wenn nicht in einem solchen Korb.
    So hörte er nicht auf, das Rohr zurechtzulegen,während wir sprachen. Immer fingen wir bei entlegenen Themen an. Immer setzte er mir diesen Wein vom Ida- Berg vor, der mir ins Blut ging, und selbstgebackene Gerstenfladen. Wort für Wort erzählte ich ihm mein Gespräch mit Eumelos.
    Da sprang er auf, warf seinen nackten Kopf zurück und brüllte lachend: Ja! Das glaub ich! Ja! Das möchte dieser Gauner!
    Immer wenn er lachte, lachte ich mit. Alles war schon leichter, aber das Wichtigste kam ja noch, Anchises belehrte mich. Wenn er mich belehrte, nannte er mich »Mädchen«. Also, Mädchen, nun paß doch mal auf. Der Eumelos braucht den Achilles wie ein alter Schuh den andern. Aber dahinter steckt ein primitiver Trick, ein Denkfehler, den er dir in aller hundsgemeinen Unschuld eingeimpft hat. Und der nur funktioniert, solange du ihm nicht auf seine schwache Stelle kommst. Nämlich: Er setzt voraus, was er erst schaffen mußte: Krieg. Ist er soweit gekommen, nimmt er diesen Krieg als das Normale und setzt voraus, aus ihm führt nur ein Weg, der heißt: der Sieg. Dann allerdings diktiert der Feind, was dir zu tun bleibt. Dann steckst du in der Klemme und hast zu wählen zwischen Achill und Eumelos, zwei Übeln. Siehst du nicht, Mädchen, wie Achill dem Eumelos zupaß kommt! Wie er sich keinen bessern Gegner als den Unhold wünschen kann!
    Ja, ja, ich sah es. War dem Anchises dankbar, dachte zu Ende, was er mir zu denken überließ. Also hätte man früh dem Übel wehren müssen, als es noch nicht »Krieg« hieß. Hätte Eumelos nicht aufkommen lassen dürfen. Hätte – wer denn. Der König. Priamos, der Vater. Der Zwiespalt blieb mir. Von Eumelos war er aufKönig Priamos verschoben. Und in dem Zwiespalt saß die Angst.
    Ich hatte Angst, Aineias. Das war es, was du niemals glauben wolltest. Die Art von Angst hast du ja nicht gekannt. Ich hab ein Angst-Gedächtnis. Ein Gefühls- Gedächtnis. Wie oft hast du gelacht, daß ich dir, wenn du wieder mal zurückgekommen warst, nicht den Bericht über die Ereignisse erstatten konnte, den du erwartetest. Wer wen auf welche Weise umgebracht, wer in der Hierarchie am Steigen oder Sinken war, wer sich in wen verliebt, wer wem die Frau gestohlen hatte – du mußtest es bei anderen erfragen. Ich wußte es natürlich, daran lag es nicht. Wer nicht in die Ereignisse verstrickt ist, erfährt am meisten. Doch ohne meinen Willen nahm mein Gedächtnis diese Tatsachen einfach nicht ernst genug. Als seien sie nicht wirklich. Nicht wirklich genug. Als seien es Schatten-Taten. Oder wie soll ich es dir

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