Kassandra
erklären. Ich gebe dir ein Beispiel: Polyxena.
Ach, Aineias. Als wäre sie wirklich, sehe ich jeden Zug ihres Gesichts vor mir, in dem das Unglück eingeschrieben stand – wieso sah ich das nur. Und hörte jenen Unterton in ihrer Stimme, der die schmelzende Angst in mir erzeugte, daß es mit ihr, der Schwester, schlecht ausgehn mußte. Wie oft trieb es mich, ihre Hände zu ergreifen und laut hinauszuschreien, was ich sah. Wie hielt ich mich zurück. Wie spannte ich all meine Muskeln gegen diese Angstgewißheit. Mir braucht man nicht zu sagen, warum die Geburt der Zwillinge so schwer war. Meine Muskeln sind verhärtet. Ich hatte das Gefühl, mit meinem Körper jene Stelle abzudecken, durch die, für mich nur spürbar, andre Wirklichkeitenin unsre Welt der festen Körper einsickerten. Die die fünf Sinne, auf die wir uns verständigt haben, nicht erfassen, weshalb wir sie verleugnen müssen.
Worte. Alles, was ich von jener Erfahrung mitzuteilen suchte, war und ist Umschreibung. Für das, was aus mir sprach, haben wir keinen Namen. Ich war sein Mund, nicht freiwillig. Es mußte mich erst niederzwingen, eh ich verlauten ließ, was es mir eingab. Daß ich »die Wahrheit« sprach; ihr mich nicht hören wolltet – das hat der Feind verbreitet. Nicht aus Bosheit, sie verstanden es nicht besser. Für die Griechen gibt es nur entweder Wahrheit oder Lüge, richtig oder falsch, Sieg oder Niederlage, Freund oder Feind, Leben oder Tod. Sie denken anders. Was nicht sichtbar, riechbar, hörbar, tastbar ist, ist nicht vorhanden. Es ist das andere, das sie zwischen ihren scharfen Unterscheidungen zerquetschen, das Dritte, das es nach ihrer Meinung überhaupt nicht gibt, das lächelnde Lebendige, das imstande ist, sich immer wieder aus sich selbst hervorzubringen, das Ungetrennte, Geist im Leben, Leben im Geist. Anchises meinte einmal, wichtiger als die Erfindung des verdammten Eisens hätte die Gabe der Einfühlung für sie sein können. Daß sie die eisernen Begriffe Gut und Böse nicht nur auf sich bezögen. Sondern zum Beispiel auch auf uns.
Nichts davon werden ihre Sänger überliefern.
Und wenn sie – oder wir – es überlieferten? Was folgte daraus? Nichts. Leider oder glücklicherweise nichts. Nicht der Gesang, nur der Befehl bewegt mehr als die Luft. Das ist nicht mein Satz, das ist Penthesileas Satz. Sie verachtete, was sie mein »Gehabe« nannte. Deine Träume gegen ihre Wurfspeere! Sie hatte einefatale unglückselige Art zu lachen. Zu gerne hätte ich es ihr bewiesen. Sie hat recht behalten, könnte man wohl sagen, wenn es auf der Seite der Wurfspeere überhaupt ein Recht gäbe. Zu spät, wieder einmal zu spät habe ich begriffen, daß sie sich, ihr Leben, ihren Körper zur Verfügung stellte, um dieses Unrecht vor aller Augen auf die Spitze zu treiben. Der Abgrund von Hoffnungslosigkeit, in dem sie lebte.
Eines Tages, als ich gerade Dienst hatte, kamen Hekabe und Polyxena in den Tempel. Merkwürdig war es, daß sie dem Apollo opfern wollten und nicht, wie sie es sonst vorzogen, der Athene, unsrer Schutzherrin, deren Tempel viel bequemer in der Stadt lag. Was ihr Opfer – Früchte des Feldes – bewirken sollte, sagten sie mir nicht, ich sah nur, wie sie sich einig waren, und mein Herz zog sich zusammen. Ihre Bitte an die Gottheit – das erfuhr ich viel viel später – war so unnatürlich, daß sie sie nicht einer Göttin, nur einem männlichen Gotte vortragen konnten: Apollon sollte die Schwangerschaft, die sie befürchtete, von Polyxena nehmen. Von Andron, dem sie nach wie vor verfallen war, wollte sie kein Kind. Warum nur trat in jener Stunde der Zwiespalt, in dem sie lebte, als inständiger Ausdruck von Gebrechlichkeit auf ihr Gesicht. Warum mußte Achill das Vieh den Ausdruck sehn. Der Atem stockte mir, als er eintrat. Seitdem er hier den Bruder Troilos getötet hatte, war er Apollon ferngeblieben, obwohl, leider, sag ich, ausgehandelt war, daß dieser Tempel ein neutraler Ort sein sollte, auch den Griechen zur Verehrung ihres Gottes offen. So kam er denn, Achill das Vieh, und sah die Schwester Polyxena, und ich, vom Altar her, von wo man alles sieht, sah, daß er sie sah. Wiesie unserm Bruder Troilos ähnelte. Wie Achill sie mit seinen entsetzlichen Blicken, die ich kannte, verschlang. Und ich: Polyxena, flüsterte ich wohl, dann sank ich um. Als ich erwachte, hockte Herophile die Alte, Lederwangige bei mir. Sie ist verloren, Polyxena ist verloren, sagte ich. – Steh auf, Kassandra, sagte Herophile. Nimm
Weitere Kostenlose Bücher