Kaste der Unsterblichen
»Unsinn.«
»Sagen wir besser, eine Der Anastasias, denn schließlich gibt es mehrere. Seit der Beförderung ist eine Woche vergangen. Bald öffnet sich die Zelle, und die neue Anastasia tritt heraus. Aber im Innern bleiben noch einige andere zurück.«
Rodenaves Blick war durchdringend und feindselig. »Und?«
»Ich kann Ihnen eines dieser Surrogate anbieten.«
Rodenave zuckte mit den Achseln. »Niemand weiß, wo sich ihre Zelle befindet.«
»Ich schon«, sagte Waylock.
»Aber Ihr Angebot ist im Prinzip wertlos für mich. Jedes Surrogat stellt ein Ebenbild Der Anastasia dar. Wenn die eine Anastasia mich ablehnt, wie Sie es andeuteten, dann tun es die anderen ebenfalls.«
»Es sei denn, man verwendet eine amnestische Droge.«
Rodenave starrte Waylock an. »Das ist unmöglich.«
»Sie haben mich noch nicht gefragt, was ich von Ihnen will.«
»Also gut: Was wollen Sie?«
»Sie waren in der Lage, einen Fernsondierungsfilm zu besorgen. Ich möchte weitere.«
Rodenave lachte leise. »Jetzt weiß ich, daß Sie übergeschnappt sind. Wissen Sie eigentlich, was Sie da verlangen? Wie es um meine Karriere stände, wenn ich Ihrem Wunsch entspräche?«
»Wollen Sie Die Anastasia? Oder vielleicht sollte ich besser sagen: eine der Anastasias?«
»Ich würde es nicht wagen, nach einem so hohen Ziel zu streben.«
»Letzte Woche waren Sie dazu durchaus in der Lage.«
Rodenave erhob sich. »Nein. Unmißverständlich und entschieden – nein.«
»Erinnern Sie sich daran, daß Sie hier nicht nur einen, sondern drei Fernsondierungsfilme entwendeten«, sagte Waylock hart. »Durch diese Tat haben Sie mich persönlich verletzt. Bisher habe ich keine Anzeige erstattet.«
Rodenave sank wieder in seinen Sessel zurück. Eine Stunde verging, und in dieser Zeit wand er sich und schwitzte, widersprach und tobte und versuchte, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Zum Schluß reduzierten sich seine Einwände auf Detailkritik an Waylocks Plan.
Waylock wiederholte immer wieder seine Hauptargumentation. »Ich verlange nichts von Ihnen, was Sie nicht schon einmal getan haben. Wenn Sie mir helfen, erhalten Sie die Belohnung, die Ihnen beim letztenmal versagt blieb. Wenn Sie sich weigern, mir zu helfen, dann haben Sie ganz einfach die Folgen Ihres ersten Diebstahls zu tragen.«
Schließlich lehnte sich Rodenave geschlagen zurück. »Ich muß darüber nachdenken.«
»Dagegen habe ich nichts einzuwenden. Ich warte solange, während Sie es sich durch den Kopf gehen lassen.«
Rodenave starrte Waylock an, und etwa fünf Minuten lang sprach niemand ein Wort.
Dann rutschte Rodenave nervös in seinem Sessel hin und her und brummte: »Mir bleibt keine Wahl.«
»Wann können Sie mir die Filmstreifen besorgen?«
»Sie wollen nur Datenkarten von Angehörigen der Amarant-Gesellschaft?«
»Richtig.«
»Ich muß sie alle auf einmal aussortieren und wiegen. Das erledige ich während einer Schicht. Zur nächsten Schicht bringe ich eine Packung Filme von entsprechendem Gewicht, Größe und Dichte mit. Dann kann ich die Datenkarten an den Kontrollschirmen vorbeischmuggeln.«
»Heute ist Montag. Dienstag, Mittwoch. Mittwochabend also?«
»Am Mittwoch geht es vielleicht nicht. Dann erhalten wir hochangesehenen Besuch – Kanzler Imish und sein Gefolge.«
»Tatsächlich?« Waylock erinnerte sich an sein Gespräch mit Imish. Offenbar war dadurch das Interesse des Kanzlers erweckt worden. »Na schön. Donnerstag. Ich komme bei Ihnen zu Hause vorbei und hole sie ab.«
Eine Woge aus Ärger spülte durch Rodenaves Miene. »Ich werde sie Ihnen im Café Dalmatia übergeben. Und ich hoffe von ganzem Herzen, das ist das letztemal, daß Sie mir unter die Augen kommen!«
Waylock lächelte und erhob sich aus seinem Sessel. »Sie werden mich noch brauchen, um Ihre Belohnung in Empfang zu nehmen.«
Als Waylock auf seinem Heimweg den Platz überquerte, kam er unter dem Prangerkäfig vorbei. In seinem Innern hockte kummervoll der Missetäter und warf gelegentlich einen trübseligen und verzweifelten Blick auf die Passanten unter ihm. Waylock war durch die Auseinandersetzung mit Rodenave besonders sensibilisiert, und das Bild des Schurken brannte sich in sein Gedächtnis ein.
2
Waylocks Arbeitszeit war nach wie vor unregelmäßig und irregulär, und am Mittwoch konnte er bereits gegen Mittag gehen.
Er überquerte den Platz, betrat das Café Dalmatia, nahm eine leichte Mahlzeit zu sich und las die neueste Ausgabe des Clarino.
Am vergangenen Tag
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