Kaste der Unsterblichen
Wisperbrücke mit ihren pagodenartigen Wölbungen und herzförmigen Fensterflügeln dahin. Vor ihnen ragte die Offenbarungshalle empor. Blaue Säulen trugen einen dunkelgrünen Architrav, und auf einer Schnörkeltafel stand: WAS IST WAHRHEIT ? Zwei Kopien einer antiken Statue – ein Mann, der mit dem Ellbogen auf dem Knie und einem mit der Hand abgestützten Kinn über ein Rätsel nachgrübelte – flankierten den Eingang. Waylock und Imish warfen einige Münzen in den Zuwendungskasten und traten ein.
Sie wurden von einem akustischen und visuellen Durcheinander empfangen. An den Wänden standen archaische Göttinnenabbilder mit dunklen Augenhöhlen. Die marmornen Hände hielten brennende Fackeln. Die Decke war im Schatten verborgen. Unter jeder Fackel war ein Podium errichtet worden, und auf jedem Podium stand ein männlicher oder weiblicher Redner, der sich mit mehr oder minder großem fanatischen Eifer an eine mehr oder minder große Zuhörerschaft wandte. Auf einem Podium wetteiferten gleich zwei Männer um die Aufmerksamkeit des Publikums, bis sie sich gleichermaßen frustriert einander zuwandten und sich mit Fausthieben und Fußtritten bekämpften.
»Wer segelt mit mir hinaus?« schrie ein Mann von einem weiteren Podium. »Das Schiff steht bereit. Ich brauche Geld. Die Insel, so schwöre ich euch, gehört mir, und dort gibt es Früchte in Hülle und Fülle.«
»Das ist Kisim der Primitivist«, erklärte Waylock dem Kanzler. »Seit zehn Jahren will er auf seiner Insel eine Kolonie begründen.«
»Wir schwimmen im warmen Wasser und schlafen auf dem heißen Strand – es ist ein natürliches Leben, leicht und frei von Zwängen …«
»Und was ist mit den Barbaren, den menschenfressenden Barbaren?« fragte ein Zwischenrufer. »Sollen wir sie verspeisen, bevor sie uns in den Kochtopf stecken?« Die Menge lachte.
Kisim protestierte wütend. »Sie sind harmlos. Sie bekriegen sich nur gegenseitig! Auf jeden Fall gehört die Insel mir, und deshalb müssen die Barbaren verschwinden!«
»Mit hundert neuen Schädeltrophäen!«
Das Publikum grölte angesichts dieser fast-obszönen Bemerkung. Imish verzog angewidert das Gesicht. Waylock und er wechselten zum nächsten Podium.
»Die Sonnenuntergangsliga«, erläuterte Waylock seinem Begleiter. »Zum größten Teil Lulks.«
»… und dann, am Ende … oh, so wendet euch nicht ab, Brüder und Schwestern … denn ich sage euch, das Ende ist der Anfang! Wir kehren zurück in den Schoß des Großen Freundes. Dann werden wir auf ewig leben in einer Pracht, die die der Amarant übertrifft! Aber wir müssen Vertrauen haben, wir müssen die weltliche Arroganz abstreifen. Wir müssen glauben!«
»… zehntausend starke Männer, das ist unsere Notwendigkeit, das ist unser Ziel!« ertönte es vom nächsten Podium. »Es ist nicht nötig, sich für das schwere Leben hier in Clarges abzurackern. Ich führe euch, die Legion des Lichts! Zehntausend von uns, in silbern glänzenden Rüstungen, mit den Werkzeugen des Krieges in den Händen. Wir werden durch Tappany marschieren. Wir werden Mercia befreien, dann Livergne und Escobar. Und danach machen wir uns alle zu Amarant. Alle zehntausend von uns, die Legion des Lichts …«
Auf dem gegenüberliegenden Podium stand eine Frau von zarter Statur. Schwarzes Haar umgab ihren Kopf mit einem dünnen Schleier. Ihre Augen waren groß und sanft, und ihr Blick reichte in eine Ferne, die weit jenseits der Vorstellung des zu ihr aufblickenden Publikums lag. »… Furcht und Neid begleiten uns, und mit welchem Recht? Überhaupt gar keinem. Immortalität steht nicht nur den Amarant zur Verfügung, sondern ebenso den Lulks. Niemand stirbt! Wie erlangt ein Amarant Unsterblichkeit? Indem er eine Egoidentifizierung mit Surrogaten herbeiführt; er stimmt sein Ich völlig mit ihnen ab. Wie lebt ein Lulk über den Tod hinaus? Fast auf gleiche Weise. Er identifiziert sich nicht mit seinen Surrogaten, sondern mit der Menschheit. All die Menschen der Zukunft sind seine Surrogate. Er identifiziert sich mit dem Menschengeschlecht, und wenn es einst vom Antlitz dieser Erde verschwindet, dann nimmt seine Entwicklung ihren Fortgang, dann geht er in eine andere Daseinsform über. Er lebt auf immer und ewig!«
»Und wer ist diese Frau?« fragte Imish.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Waylock. »Ich habe sie nie zuvor gesehen … Hier sind die Lebensartzweifler. Kommen Sie und hören Sie zu.«
Eine Frau von beeindruckender und reifer Schönheit stand auf dem
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