Kaste der Unsterblichen
gelang es zu entkommen. Der Sprecher sank, von der Erregung überwältigt, zu Boden und vergrub das Gesicht zwischen den Händen.
Ohne einen gemeinsamen Brennpunkt verlor die Menge ihren Zusammenhalt und zerfiel in einzelne Komponenten mit ausdruckslosen Gesichtern. Doch für einen Augenblick waren sie durch ihren Zorn zusammengeschweißt worden; sie hatten sich gemeinsam gegen die statische Ordnung aufgelehnt. Die Nachrichtenmedien, die über den Zwischenfall berichteten, benutzten die Schlagzeile: Schicksalsverrückte am hellichten Tag?
Waylock verbrachte den Tag in seiner alten Wohnung an der Phariotstraße, in der sich nun Vincent Rodenave eingerichtet hatte. Rodenave hatte abgenommen, und in seinen Augen, unter denen dunkle Ringe lagen, glühte ein beinah dämonischer Eifer.
Als Waylock ihn aufsuchte, hatte Rodenave rund die Hälfte der Fernsondierungs-Streifen ausgewertet. Eine großformatige Karte hing an der Wand. Sie war mit scharlachroten Stecknadeln übersät, und jede einzelne von ihnen markierte eine Zelle, in der sich die Surrogate eines Amarant befanden. Waylock betrachtete die Karte mit düsterer Befriedigung.
»Dies hier«, sagte er zu Rodenave, »ist vermutlich das gefährlichste Stück Papier auf der ganzen Welt.«
»Darüber bin ich mir im klaren«, erwiderte Rodenave. Er deutete auf das Fenster. »Dort unten auf der Straße hält sich ständig ein Assassine auf. Diese Wohnung wird sorgfältig überwacht. Was ist, wenn sie sich zu einem Einbruch entschließen?«
Waylock runzelte die Stirn, faltete die Karte zusammen und schob sie sich in die Tasche. »Werten Sie auch die anderen Streifen aus. Wenn ich mich diese Woche freimachen kann …«
»Wenn Sie sich freimachen können? Arbeiten Sie denn?«
Waylock lachte rauh. »Ich arbeite für drei. Aversham hat seine Tätigkeit auf ein Minimum beschränkt. Ich mache mich unentbehrlich.«
»Wie?«
»Zunächst dadurch, indem ich Imishs eigene Stellung aufwerte. Er hatte bereits aufgegeben und sich damit abgefunden, als Dritte von seinem Assassinen abgeholt zu werden. Jetzt hofft er, den Aufstieg in Rand zu schaffen. Wir lassen uns überall sehen. Er macht soweit von seinem offiziellen Status Gebrauch, wie es ihm möglich ist. Er hält Reden, setzt sich für Stiftungen und andere dem Allgemeinwohl dienende Einrichtungen ein, gibt der Presse Interviews und verhält sich auch ansonsten ganz wie eine bedeutende Persönlichkeit.« Waylock zögerte und fügte nach einigen Sekunden in nachdenklichem Tonfall hinzu: »Er könnte uns alle überraschen.«
2
Als Waylock nach Trianwood zurückkehrte, suchte er unmittelbar nach seiner Ankunft die Privaträume des Kanzlers auf. Imish lag auf der Couch und schlief. Waylock ließ sich in einen Sessel fallen.
Imish erwachte und setzte sich zwinkernd auf. »Ah, Gavin. Heute ist Feiertag. Wie ist die Stimmung in Clarges?«
Waylock dachte kurz nach. »Man kann sie wohl als bedrückt bezeichnen.«
»Wieso?«
»Es liegt Spannung in der Luft. Ein dahinschäumender Strom erschöpft seine Energie. Wird er aber gestaut, dann akkumuliert sich die Kraft – und wenn sie ein Ventil findet, entlädt sie sich mit einem Schlag.«
Imish kratzte sich am Kopf und gähnte.
»Die Straßen sind überfüllt«, sagte Waylock. »Herr Jederman ist unterwegs und streift ziellos umher. Niemand weiß, warum. Aber es ist dennoch der Fall.«
»Vielleicht will er sich nur Bewegung verschaffen«, gähnte Imish. »Ein bißchen frische Luft schnappen, sich die Stadt ansehen.«
»Nein«, widersprach Waylock. »Er macht einen matten und gleichzeitig angespannten Eindruck. Die Stadt interessiert ihn nicht – seine Aufmerksamkeit gilt nur den anderen Bürgern. Und er ist enttäuscht, denn in den Gesichtern der anderen erkennt er sich selbst wieder.«
Imish runzelte die Stirn. »Sie beschreiben ihn als so niedergedrückt, so müde.«
»Das war meine Absicht.«
»Ach, Unsinn!« sagte Imish schroff. »Solche Männer haben Clarges nicht zu dem gemacht, was es ist.«
»Da stimme ich Ihnen zu. Die Zeit unserer Größe ist längst vorbei.«
»Nun, unsere Verwaltung hat nie so reibungslos funktioniert«, erwiderte Imish leidenschaftlich. »Wir haben nie so effizient wie heute produziert und mit einer so geringen Verschwendungsrate konsumiert.«
»Und nie zuvor waren die Palliatorien so voll«, fügte Waylock hinzu.
»Sie sind heute der personifizierte Optimismus.«
»Manchmal frage ich mich«, sagte Waylock, »warum ich überhaupt um
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