Kastner, Erich
und Hingabe, die logischen Folgen seiner schwachsinnigen Hypothese aus.
Irene Trübner, die neben ihm saß, musterte ihn kritisch, Ihre Stirnfalte reichte bis unter das flotte Hütchen. Würde es sich rächen, daß er ihr Geheimnis erfahren hatte? Und wenn er ein dunkler Ehrenmann war – warum gab er ihr und Papa Külz nützliche Ratschläge? Ihr Geheimnis wußte er nun. Aber wie hieß das seine?
Plötzlich lachte Herr Struve schallend und schlug die Augen auf.
»Ihnen geht’s wohl zu gut?« fragte sie.
»Aufrichtig gesprochen, nein. Aber ich stellte mir gerade vor, wie die Welt aussähe, wenn die Sonne nur die Gerechten beschiene und die Ungerechten ausließe.«
»Wie dann die Welt aussähe? Ich wüßte lieber, wie dann Sie aussähen.«
»Nun, was glauben Sie? Strahlend weiß oder wie bei einer Sonnenfinsternis?«
»Vielleicht kariert«, meinte sie.
»Fragen Sie Ihren Instinkt!« riet er. Und pathetisch fügte er hinzu:
»Der Zug des Herzens ist des Schicksals Stimme.«
»Daß ich nicht lache!« sagte sie streng.
»Behüte!« Er wechselte das Thema. »Hoffentlich stiftet Ihr sonniger Herr Külz in seinem Coupé kein Unheil.«
»Herrn Külz sieht man auf den ersten Blick an, daß er ein anständiger Mensch ist!« erklärte sie und musterte ihren Nachbar vorwurfsvoll.
»Kunststück! Wenn ich dreißig Jahre älter bin, haben sich meine vorzüglichen Eigenschaften auch allmählich von der Seele bis ins Gesicht durchgesprochen! ›Rudi‹, werden Sie dann sagen, ›ich habe dir damals bitter unrecht getan. Kannst du mir verzeihen?‹ Wer weiß, ob ich’s tue.«
»Glauben Sie wirklich, daß er Unheil anrichten wird?« fragte sie.
Der junge Mann erwiderte: »Ich liebe diesen prächtigen alten Mann. Aber Dummheit ist unberechenbar.«
Irene Trübner machte ein besorgtes Gesicht.
»Nur Mut«, sagte er. »Die Sache wird schon schiefgehen.« Dann schloß er von neuem die Augen und widmete sich dem Sonnenschein, der zwischen Gerechten und Ungerechten keinen Unterschied macht. Darüber schlief er ein.
Er erwachte dadurch, daß ihn jemand rüttelte. Es war Irene Trübner. »Verzeihen Sie«, flüsterte sie. »Aber Herr Külz behauptet, den Herrn mit dem weißen Bart und der dunklen Brille bereits gestern abend in Kopenhagen kennengelernt zu haben.«
Oskar Külz, der sich in einen freien Stuhl gesetzt und den Koffer gewissenhaft danebengestellt hatte, nickte schwerfällig. »Jawohl, in der Pension Curtius. Auf der Osterbrötchengade, oder wie die Straße heißt.«
»Irgendwo muß schließlich jeder Mensch wohnen«, behauptete Struve. »Warum also soll er nicht mit Ihnen in der gleichen Pension gewohnt haben?«
»Ich habe nicht in der Pension Curtius gewohnt. Ich ging nur hin, um Herrn Storm dort abzugeben.«
»Wer ist Herr Storm?« fragte der junge Mann.
»Ein Bekannter von mir. Ein sehr netter Mensch. Ich lernte ihn gestern in dem Hotel kennen, in dem ich auch Fräulein Trübner kennenlernte. Er half mir am Kiosk, als ich Briefmarken verlangte. Die Karte habe ich dann vergessen, in den Kasten zu stecken.«
»Oje«, sagte Fräulein Trübner. »Ihre arme Frau!«
Rudi Struve setzte ich neugierig auf. »Trafen Sie Herrn Storm wieder, lieber Herr Külz?«
»Ja. Gegen Abend. Ganz zufällig. Er stand vor einem Kunstgeschäft. Und ich sprach ihn an. Er behauptete, der Aquavit sei in Kopenhagen besser als anderswo. Und dann lud er mich ein.«
»Und dann trank er Sie unter den Tisch?«
»Unterm Tisch lag zum Schluß, wenn ich ehrlich sein soll, Herr Storm. Als ich ihm zutrinken wollte, war er weg. Er saß neben seinem Stuhl und war nicht mehr ganz beisammen. Erst als ihm der Kellner kaltes Wasser über den Kopf goß, fiel ihm seine Adresse wieder ein.«
»Die besagte Pension Curtius.«
»Ganz recht«, meinte Külz. »Ich lieferte ihn dort ab. Die Wirtsleute waren ausgegangen. Nur ein einzelner Herr war da. Ein Mieter.
Mit einem weißen Bart und einer dunklen Brille. Er wohnte erst einen Tag dort und wußte deshalb nicht, ob Storm tatsächlich in der Pension wohnte. Ich lud Storm auf dem Sofa im Speisezimmer ab und fuhr in mein Hotel.«
»Was irritiert Sie eigentlich?« fragte Struve. »Warum soll der Herr mit Bart und Brille nicht nach Berlin reisen, wenn’s ihm Spaß macht?«
»Sie sind plötzlich so gutgläubig geworden«, sagte Fräulein Trübner ärgerlich.
»Ich möchte Ihnen gefallen«, entgegnete Rudi Struve. »Ich weiß, Sie schätzen das.«
»Lassen Sie den Unsinn!« bat sie.
»Na schön.«
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