Kastner, Erich
Struve wandte sich an Külz. »Sie trafen Herrn Storm vermutlich heute auf dem Bahnhof wieder.«
»Wir hatten es so verabredet«, sagte Külz. »Ich war froh, nicht allein reisen zu müssen, sondern mit einem Bekannten. Vor allem wegen der Miniatur in meinem Koffer.«
»Hatten Sie ihm davon erzählt?«
»Erlauben Sie! Wenn nicht der Kerl am Fenster die Geschichte mit der zweiten Zollkontrolle aufgetischt hätte, wäre alles gut gegangen. Aber auf diesen Schwindel sind natürlich alle anderen im Abteil hereingefallen!«
»Lauter nette Leute, was?« erkundigte sich Struve.
»Ganz reizende Menschen«, bestätigte Külz.
»Natürlich«, sagte Struve. »Eine Frage, lieber Herr Külz. Wie kamen Sie eigentlich in das nette Coupé? Wollten Sie hinein? Oder Ihr Bekannter?«
»Ich wollte eigentlich erst in ein andres Abteil. Doch da saß eine alte Dame drin. Und Herr Storm ist abergläubisch. Alte Damen bringen ihm Unglück. Darauf mußte ich Rücksicht nehmen.«
»Selbstverständlich«, meinte Struve.
»Unser Coupé fand dann Herr Storm. Er fragte einen Herrn, der aus dem Fenster sah, ob noch Platz sei.«
»Und es waren gerade noch zwei Plätze frei?«
»Jawohl.«
»Und der Herr, der aus dem Fenster blickte, hatte eine kupferrote Nase«, vermutete Struve. »Stimmt’s?«
Fräulein Trübner staunte.
»Und ob!« rief Papa Külz. »Einen tollen Zinken! Auch ein sehr reizender Mensch. Er reist nach Warnemünde. Dort besucht er seine Gattin und seine beiden Kinder.«
»Die lieben Kleinen.« Rudi Struve lachte.
»Das ist aber merkwürdig«, stellte Külz fest. »Genau dasselbe sagte der Kerl, der uns mit der Zollkontrolle hineingelegt hat!«
»Der ausgeprägte Familiensinn rotnasiger Männer scheint auf dieser Reise nicht sehr ernst genommen zu werden. Und nun noch eine bescheidene Frage, lieber Herr Külz.«
»Bitte schön.«
»Die Insassen Ihres Coupés kennen einander ganz gewiß nicht!«
»Bewahre! Es ist eine richtige, bunt zusammengewürfelte Reisegesellschaft. Aber, wie gesagt, sie sind alle reizend! Und so liebenswürdig! Vorhin wollte ich mein Zigarrenetui aus dem Koffer holen.
Glauben Sie, sie hätten das zugelassen? Ausgeschlossen! Alle boten mir, wie auf Kommando, Zigarren und Zigaretten an. Schade, daß Sie das nicht gesehen haben. Ich war von Etuis und Zigarettenschachteln geradezu belagert! Es war rührend!«
Rudi Struve konnte nicht mehr ernst bleiben. Er lachte sein helles, aufreizend vergnügtes Primanerlachen.
Papa Külz war entrüstet. »Was gibt’s denn da zu lachen? Bloß weil wildfremde Menschen höflich und zuvorkommend sind? Sehr fein ist das nicht, junger Mann.«
»Nein«, erwiderte Struve. »Fein ist das nicht, aber verständlich.«
Er war wieder ernst geworden. »Gnädiges Fräulein, ich halte es für dringend notwendig, Herrn Külz ins Bild zu setzen. Wer weiß, was sonst noch alles passiert.«
Irene Trübner nickte unmerklich mit dem Kopfe.
»Lieber Herr Külz«, sagte Struve. »Ich muß Ihnen eine Geschichte erzählen, die Sie noch nicht kennen.«
»Schießen Sie los!«
»Also – es war einmal ein Mann, der grundanständig war und deswegen alle anderen Menschen für genauso anständig hielt.«
»Es war einmal?« fragte Külz. »Das klingt ja wie ein Märchen!«
»Es ist auch eines«, erwiderte der junge Mann freundlich. »Der brave Mann, von dem die Rede ist, kam eines Tages in einer fremden Stadt in ein fremdes Hotel und lernte dort eine schöne Prinzessin kennen, die ihn um Hilfe bat. Da er ein braver Mann war, war er natürlich sofort einverstanden. Die schöne Prinzessin wurde von einer Räuberbande verfolgt, die es auf einen kostbaren Schmuck abgesehen hatte, den sie besaß. Einige Räuber beobachteten das Gespräch zwischen ihr und dem braven Mann von ferne. Sie dachten sich ihr Teil und beschlossen, sich mit ihm anzufreunden. Deshalb sprach ihn einer von den Räubern an. Ein Mensch, der sich durch seltsam durchsichtige und hochgerutschte Ohren auszeichnete. Der brave Mann fand, der andere sei ebenfalls ein braver Mann. Aber als der wirklich brave Mann mit der verfolgten Prinzessin das Hotel verließ, ging der Strolch mit zweien seiner Kumpane hinter dem Paare her. Interessiert Sie das Märchen?«
»Doch, doch«, sagte Herr Külz. »Schöne Prinzessinen waren schon immer eine Schwäche von mir.«
»Nun gut. Als sich der brave Mann von der Prinzessin verabschiedet hatte, beschloß der kleine Kerl, den anderen betrunken zu machen. Denn die Räuber hofften, von
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