Kastner, Erich
sinken und sagte zu dem anderen: »Entschuldigen Sie vielmals!«
»Bitte sehr.«
Fräulein Trübner hakte sich bei dem jähzornigen Riesen unter und zog ihn Schritt um Schritt zu den Bordstühlen hin. »Alle Räuber werden Sie doch nicht totschlagen können.«
»Nein. Nur die im Coupé.«
Rudi Struve lachte. Dann meinte er skeptisch: »Mit zehn Fingern gegen zehn Revolver kämpfen ist Geschmacksache.« Er drückte den braven Mann in einen Stuhl.
Sie saßen lange Zeit wortlos beisammen. Irene Trübner zeigte mit der Hand nach dem Horizont. Die deutsche Küste kam in Sicht.
»Es geht nicht!« meinte Külz nach einer Weile. »Ich kann mit den Kerlen nicht zusammenbleiben. Es geht tatsächlich nicht! Ich steige in Warnemünde aus. Sonst passiert ein Unglück. Ich muß sofort vom Schiff herunter!«
9. KAPITEL
KÜLZ LERNT ENDLICH SEINE FRAU KENNEN
In Warnemünde hatte der Zug den Dampfer verlassen. Und nun fuhr er wieder, wie sich’s für Eisenbahnen gehört, zwischen Wiesen und Feldern hin und an Dörfern und Viehherden vorüber. Ein Reisender, der kurz nach Kopenhagen eingeschlafen und jetzt erst erwacht wäre, hätte kaum erraten können, ob er sich noch in Dänemark oder schon in Mecklenburg befand. Die beiden Landschaften sind einander zum Verwechseln ähnlich.
In einem Abteil zweiter Klasse unterhielt sich ein weißbärtiger Herr, der eine dunkle Brille trug, mit einem Krefelder Textilfabrikanten über den europäischen Außenhandel. Sie erörterten die durch den Weltkrieg geschaffene neue Lage. Sie sprachen darüber, daß die Jahre, in denen Europa seinen großangelegten Selbstmordversuch unternahm, von den übrigen Kontinenten, den früheren Käufern europäischer Waren, klug benutzt worden waren. Die anderen Kontinente hatten sich industriell unabhängig gemacht.
Die beiden Männer erwogen die Gefahren, die einem Kontinent wie Europa dadurch erwachsen, daß er Rohstoffe importieren muß und nichts mehr ausführen kann, es sei denn bares Geld.
Da ging ein kleiner Herr draußen im Gang vorüber. Ein Herr, der sich durch hochgerutschte Ohren auszeichnete. Er blickte keineswegs in das Coupé herein.
Doch das Interesse des weißbärtigen Herrn spaltete sich. Die Anteilnahme am europäischen Handel schwand rapide. Schließlich erhob er sich, murmelte eine Entschuldigung und begab sich eilig auf den Gang.
Der kleine Herr stand am Ende des Waggons und schaute, als ob er selbstvergessen träumte, aus dem Fenster auf die schöne deutsche Landschaft hinaus.
Der Weißbärtige trat neben ihn. »Ich habe euch doch gesagt, daß ihr nicht hierherkommen sollt!« flüsterte er ärgerlich.
»Ich kann ja wieder gehen«, schlug der Kleine vor.
»Was gibt’s?«
»Külz ist verschwunden!«
»Bestimmt?«
»Außer, er steht auf der Lokomotive. Aber dort wollten wir nicht nachsehen.«
»Laß deine blöden Witze!«
»Steinhövels Sekretärin ist auch fort.«
Der andre strich sich den weißen Bart.
»Und der junge Mann, der dem Mädchen seit gestern am Rock hing – «
»Der ist auch weg?«
»Der ist auch weg!«
Sie blickten in die Landschaft hinaus. Drüben stand eine verfalle-ne Windmühle. Auf einem sanften grünen Hügel. Ringsum wogten die Felder. Der Wind streichelte sie.
»Ob sie was gemerkt haben?« fragte der kleine Herr leise.
»Dann wäre die Polizei schon da.«
»Vielleicht wartet sie in Berlin am Bahnhof.«
Der weißbärtige Herr runzelte die hohe Stirn. Dann sagte er: »Alles in Rostock aussteigen! Ich wohne im Hotel Blücher. Als Professor Horn. Klettert nicht alle aus dem gleichen Wagen! Verteilt euch und setzt euch ins Cafe Flint. In den ersten Stock. Stellt einen Posten aus! Ich komme vorbei und gebe neue Anweisungen.«
»Gut, Chef!« meinte Storm. »Wird gemacht.« Dann kehrte er in seinen Waggon zurück.
Der andere blieb noch eine Weile am Fenster stehen. Die Schrebergärten Rostocks zogen vorüber. Die großen neuen Kliniken kamen in Sicht. Der Herr ging in sein Abteil und hob den Koffer aus dem Gepäcknetz.
»Nanu!« meinte der Krefelder Fabrikant. »Ich dachte, Sie führen auch nach Berlin?«
Der andre drückte den Hut auf den Kopf, legte den Paletot sorgfältig über den Arm und sagte: »Ich habe mir’s anders überlegt. Ich will mir wieder einmal Rostock ansehen. Vor allem die alte Alma mater. Ich habe hier drei Semester studiert. So etwas hakt sich im Gefühl fest. Eben sah ich die alten ehrwürdigen Backsteinkirchen auftauchen. Nein, ich kann nicht weiterfahren. Wer weiß, was
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