Kastner, Erich
dem braven Mann, wäre er erst betrunken, die Pläne der Prinzessin zu erfahren. Der Kerl mit den verrutschten Ohren lief also dem braven Manne zufällig in den Weg. Und sie wanderten selbander ins Wirtshaus. Nun begab es sich aber, daß der brave Mann mehr Schnaps vertrug als der kleine Gauner. Und so kam es, daß der treuherzige, brave Mann den Räuber in dessen Wohnung ablieferte. Die Wirtsleute waren nicht da, weil die Wohnung gar keine Wirtsleute hatte, sondern eine Räuberhöhle war.
Der Herr mit dem weißen Bart und der dunklen Brille, der die Tür aufschloß, war der Räuberhauptmann. Und in allen Zimmern hockten seine Untergebenen. – Der brave Mann lieferte den betrunkenen Räuber ab und ging nach Hause. Daß er gesund und lebendig davonkam, lag einmal daran, daß ihn die Bande noch brauchte, und zum andern daran, daß solch brave Männer im Märchen sehr einflußreiche Schutzengel haben.«
Papa Külz saß stumm im Stuhl. Sein Mund stand ziemlich weit offen, und der graue buschige Schnurrbart zitterte.
»Tags darauf«, berichtete Struve, »übergab die schöne Prinzessin dem braven Mann den Schmuck, den die Räuberbande rauben wollte. Einige Räuber sahen das. Kurz darauf tauchte der Dieb, der so seltsame Ohren hatte, auf, und sie suchten ein passendes Eisenbahnabteil. Sie setzten sich natürlich nicht in das Abteil, in das der brave Mann wollte, sondern in jenes, aus dem ein Mensch mit einer roten Nase heraussah. Das war kein Wunder. Denn der Mensch mit der roten Nase gehörte zu der gleichen Bande wie der Dieb mit den verrutschten Ohren. Und nicht nur diese beiden gehörten dazu, sondern sämtliche Männer, die in dem Eisenbahnabteil saßen und so taten, als seien sie fremd miteinander.«
»Das dürfen Sie nicht sagen!« Herr Külz flüsterte es nur. Aber als ihn der andere mit freundlichem Bedauern lange anschaute, ließ er den Kopf sinken, als schäme er sich für jene Leute.
Der junge Mann fuhr mit seinem Märchen fort. »Sie hatten einen Plan gemacht. Der Plan war nicht schlecht. Denn er war auf einem gar mächtigen Fundament erbaut. Auf der Leichtgläubigkeit des braven Mannes. Einer der Bande erschien als Zöllner. Sie öffneten das Gepäck, und so stahl er den Schmuck aus dem Koffer, ohne daß der brave Mann Verdacht schöpfte. Nur als er, weil er Hunger hatte, das Abteil verließ, wurden sie unruhig. Den Schmuck, den hatten sie zwar. Aber wenn der brave Mann nun in ihrer Abwesenheit den Koffer öffnete und den Diebstahl bemerkte? Sie waren, wie alle Menschen ihres Schlags, aufs äußerste gefaßt. Raub und Mord sind eng verschwistert. Doch der brave Mann kehrte zurück und war nach wie vor freundlich zu ihnen. Also konnte er nichts von alledem wissen. Nur als er aufstand und aus seinem Koffer Zigarren herausnehmen wollte, da durchfuhr sie ein gewaltiger Schreck. Er durfte den Koffer um keinen Preis öffnen! Deswegen beeilten sie sich alle und boten dem Manne Zigarren und Zigaretten an. Und er war, weil er ein braver Mann war, von so viel Liebenswürdigkeit bis zu Tränen gerührt.«
Herr Struve machte eine Pause.
Fleischermeister Oskar Külz aus Berlin saß vornübergeneigt. Sein Gesicht war blutrot, und die Fäuste lagen wie Hämmer auf den Knien.
»Bis hierher reicht das Märchen«, berichtete Struve. »Aber es ist noch nicht zu Ende.«
»Doch!« Herr Külz stand auf. »Das Märchen ist aus!« Er ergriff seinen Stock und ging, ohne mehr zu sagen, mit schweren Schritten zur Treppe.
Die jungen Leute blickten dem alten gebeugten Riesen erstaunt nach. Dann sprangen sie im selben Augenblick auf und rannten hinter ihm her.
»Wo wollen Sie hin?« fragte Irene Trübner ängstlich.
Er schob ihre Hand unsanft beiseite. »Ins Coupé!«
»Und was wollen Sie dort tun?« fragte Struve.
»Abrechnen!« sagte der alte Mann. »Ich schlage die Lumpen tot.
Mit der flachen Hand. Lassen Sie mich los!«
»Nein«, erwiderte der junge Mann. »Und wenn ich mich mit Ihnen hier auf Deck herumprügeln sollte, obwohl Sie mir sehr sympathisch sind! Und wenn man uns anschließend ins Krankenhaus bringen sollte! In Ihr Coupé lasse ich Sie in dieser Verfassung nicht!«
Herr Külz, dieser gutmütige Mensch, hob die Faust, um den Herrn, der Rudi hieß, zu schlagen.
Da trat Irene Trübner zwischen beide und sagte: »Papa Külz! Was fällt Ihnen denn ein! Ich denke, Sie wollen mir helfen?«
»Es hat alles seine Grenzen«, knurrte er. »Außer meiner Dummheit, versteht sich.« Dann ließ er die erhobene Faust
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