Kater mit Karma
Ohren, die seine eindrucksvollen Augen überschatteten, war er die personifizierte Niedlichkeit. Das Einzige, was den Eindruck klassischer Schönheit etwas störte, waren der borstige Schwanz und die Hinterpfoten, die ein paar Nummern zu groß für ihn waren.
Er war überhaupt viel größer als Cleo, als sie 1983 kurz nach Sams Tod in unser Leben getreten war. Cleo war zu uns gekommen, nachdem eine Tragödie unsere Familie zerrissen hatte. Ich fragte mich, ob Jonah eine ähnlich wichtige Rolle spielen würde, indem er unsere Gedanken vom Krebs ablenkte und auf die Zukunft richtete.
Nachdem er uns kurz gemustert hatte, tauchte Jonah unter dem Rohrsessel ab und spähte durch die Bambusstäbe zu uns herüber.
»Der arme kleine Kerl ist ja völlig verängstigt«, sagte Mary. »Warten wir ab, bis er sich ein bisschen eingewöhnt hat. Ich setze Wasser auf.«
Nie hätte ich mir vorstellen können, wieder eine Katze im Haus zu haben, und schon gar nicht eine Siamkatze. Eine überhebliche Rasse, um die sich jede Menge märchenhafte Geschichten ranken. Der Legende nach war es nur dem König von Siam (das heutige Thailand) und Mitgliedern der königlichen Familie erlaubt, eine Siamkatze zu besitzen. Jedes Mal wenn eine hochgestellte Persönlichkeit starb, wurde eine dieser Katzen ausgewählt, um die Seele des Verstorbenen zu verkörpern. Die Katze wurde in einen Tempel gebracht, wo Mönche und Priester sie mit den feinsten Leckerbissen von goldenen Tellern fütterten. Die Angehörigen des Verstorbenen brachten dem Tier Kissen aus erlesenen Seidenstoffen, auf denen es sich räkeln konnte. Außer Fressen, Räkeln und hübsch Aussehen musste die Katze nur noch an Zeremonien teilnehmen. Ich hoffte, Jonah erwartete nicht diese Art Leben bei uns.
Wir versuchten, ihn zu ignorieren, aber genauso konnte man versuchen, einen Pfau im Hühnerstall zu ignorieren. Als Mary mit einem Becher Tee an dem Sessel vorbeiging, schoss eine Pfote hervor und schlug nach ihrem Knöchel.
»Er will spielen«, sagte sie. »Wo ist die Angel?«
Sie griff in die raschelnde Plastiktüte und holte die Angelrute mit dem frechen Vogel heraus. Sie ließ ihn vor dem Sessel über den Boden hüpfen, und eine Pfote tauchte auf und schlug danach … einmal, zweimal. Jedes Mal wenn die Pfote den Vogel erwischte, bimmelte das Glöckchen.
Lydia hob die vorderen Beine des Sessels hoch. Mary zog den Vogel an der Angelschnur in die Mitte des Raums – und wusch! Jonah kam unter dem Sessel hervorgeschossen und stürzte sich auf den unglücklichen Vogel, packte ihn mit den Zähnen und trat mit seinen übergroßen Hinterpfoten auf ihn ein.
Seit der Operation hatte ich jedes Lachen ängstlich vermieden. Viele alltägliche Verrichtungen – manchmal sogar das aufrechte Sitzen auf einem Stuhl – taten so weh, dass mir die Luft wegblieb. Als ich jedoch diesem kleinen Kater dabei zusah, wie er einen Spielzeugvogel windelweich prügelte, musste ich so lachen, dass ich meinen Tee verschüttete. Es war wunderbar, wieder ohne Schmerzen lachen zu können. Tatsächlich schien es mich aus Krankheit und Angst zurückzuholen in eine pulsierende Welt, in der sich alles ununterbrochen erneuerte. Über den kleinen Kater zu lachen verschaffte mir die Freiheit, auch über alles andere zu lachen, was in der letzten Zeit passiert war. Es vertrieb die muffige Krankenhausluft und brachte mich zurück ins Leben.
Jonah setzte sich auf die Hinterbeine und sah uns prüfend an.
»Meinst du, Cleo wäre einverstanden?«, fragte Lydia.
Schlank und von männlicher Großspurigkeit, war Jonah praktisch das genaue Gegenteil von Cleo. Er war doppelt so groß wie sie in seinem Alter. Sein Fell war so hell wie der Mond, während Cleo pechschwarz gewesen war. Es fasste sich weich an, aber die einzelnen Haare waren fester als bei Cleo. Er war ein reinrassiger Kater aus einer Tierhandlung. Cleo eine undefinierbare Mischung, die ich von einer Bekannten mit einem Überschuss an Katzenbabys bekommen hatte. Unter keinen Umständen hätte Cleo Jonah für einen Ersatz halten können.
»Wie könnte sie nicht?«, sagte ich lächelnd. »Weißt du, was Cleo jetzt gewollt hätte? Eine Schale Milch.«
Lydia eilte in die Küche und tauchte Sekunden später mit einer Schüssel Milch wieder auf, die sie vor den Kater stellte. Er schnupperte interessiert daran, dann tauchte er eine Vorderpfote in die Flüssigkeit und ließ eine Reihe konzentrischer Kreise an der Oberfläche entstehen. Er hob die feuchte Pfote an die
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