Kater Serano ermittelt 01 - Katzengold
der eben versuchte, seine Kippe im obersten der sauberen Aschenbecher auszudrücken. Er verlor das Gleichgewicht und rutschte von seinem Hocker. Estrella hastete zu ihm herum. »Jetzt aber ab ins Bett! Der Regen hat aufgehört.«
Mit verzerrtem Grinsen schob Reiner sein Kinn über die Holzkante. »Willst du sie sehen?«
»Lass gut sein, ich glaub’s dir. Und jetzt bring ich dich an die Tür, wie es sich für eine gute Gastgeberin gehört.«
Ehe Reiner begriffen hatte, was vor sich ging, hatte sie ihn untergehakt und durch die Tür bugsiert. Unter dem Vordach der Bar redete ein junger Mann mit Baskenmütze leise auf eine ebenso junge Frau ein. Die beiden hatten die Köpfe so eng zusammengesteckt, dass eine Laus problemlos das Revier hätte wechseln können. Estrella schob ihnen den verdutzten Straßensänger hin.
»Nils, hier ist jemand, der nach Hause gebracht werden möchte.«
»Ich finde selbst nach Hause«, brummte Reiner und stemmte die Fersen in die Ritzen des Bürgersteigpflasters.
»Na, ich weiß nicht«, sagte Estrella. »Beim ersten Versuch bist du hier gelandet.«
»Weil ich eine Leiche gesehen habe!«
Keine drei Sekunden später fühlte sich Reiner in die Zange genommen.
»Ts, ts. So schlimm ist es schon?«, murmelte Nils. »Ich habe mal gelesen, dass Sänger, die Leichen sehen, innerhalb von wenigen Wochen selbst sterben. Sie sehen praktisch ihren eigenen Tod voraus. Bei Jimi Hendrix war das so. Erinnerst du dich an Jimi Hendrix?«
Reiner stierte ihn ein paar Sekunden lang glasig an. Dann sackte er plötzlich zusammen. »Wirklich?«
»Wirklich.«
»Wenn du dich schwermachst, kann ich dich nicht halten, und dann fällst du in den Matsch«, sagte die junge Frau auf der anderen Seite. »Steh gerade!«
Willenlos ließ Reiner sich hochziehen und erst um die Ecke, dann über den angrenzenden Hof bis zu seinem Hinterhaus schleifen.
»Es wundert mich, dass du davon noch nie gehört hast«, fuhr Nils ernst fort. »Vom Todesengel der Musik. Beim ersten Mal zeigt er sich nur, beim zweiten Mal nimmt er dich mit. Es sei denn, du schwörst deinen Lastern ab. Die Musik duldet keine anderen Götter neben sich, weißt du.«
Der Reiner, der oben im zweiten Stock mit Mühe seine Wohnungstür aufschloss, war ein gebrochener Mann.
»Denk dran!«, ermahnte Nils ihn zum Abschied. »Die Leiche sieht alles. Hendrix war das egal. Du weißt ja, was aus ihm geworden ist!«
Sonnabend
Bismarck schnarchte noch in seinem Kinderwagen, als Serrano in aller Frühe über ihn hinweg aus dem Fenster sprang. Eine Weile hockte er sich auf den Stammplatz des Alten, um sich in die neuen Verhältnisse einzuwittern. Man musste aufpassen. Das fehlende Bremsengekreisch und Rangieren der Lieferfahrzeuge auf der morgendlichen Geschwister-Scholl-Straße gaukelte Friedlichkeit vor, aber was dort die Vierrädrigen, waren hier Hunde und Zweiräder. Die Kunst bestand darin, den Rhythmus zu erfassen. Jede Straße besaß ihren eigenen. Erst wenn man ihn verinnerlicht hatte, konnte man sich ihm anpassen. Und erst dann war man sicher. Man durfte nichts überstürzen, nur weil man zum Beispiel Hunger hatte.
Neben ihm schlug die Tür auf. Sofort stand Serrano auf den Pfoten. Aber es war nur Nils, der herauskam. Serrano beruhigte sich. Nils war der einzige Mensch, den jede Katze des Viertels beim Namen kannte, was wohl daran lag, dass er so häufig genannte wurde. Er war Stammkunde beim Fleischer, in der Bar und in sämtlichen Geschäften der Gegend. Darüber hinaus kümmerte er sich um einige der Häuser des Viertels und um deren Bewohner, menschliche wie tierische.
Wie es aussah, war Nils guter Dinge. Er pfiff ein Lied, das Serranos empfindliches Ohr reizte, reinigte die Fingernägel der einen Hand mit denen der anderen, rückte dann seine Mütze zurecht und sah zu ihm herüber.
»He!«
Serrano erhob sich höflich.
»Wo ist der Fürst?«
An der Wortmelodie erkannte Serrano die Frage. Wahrscheinlich ging’s um Bismarck. Er stieß den Kopf leicht gegen das Kellerfenster.
»Bisschen spät heute, der Alte«, sagte Nils und schloss sein Fahrrad vom Zaun ab. »Übrigens, ich weiß nicht, ob du’s bemerkt hast, aber dahinten kommt Trixi.«
Er tippte sich gegen die Mütze und fuhr los. Kaum war Nils um die Ecke, erschien ein gähnender Bismarck im Fenster. »Mach dir nichts aus Trixi. Die ist noch klappriger als ich.«
Trotzdem warteten sie im Schutz des Kellerfensters, bis der Dackel vorbeigehinkt war. »Sie hat’s an der Hüfte«, sagte
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