Katerstimmung (German Edition)

Nachricht mit: Das Spektakel dauert genau eine Stunde. Ab Punkt 13 Uhr herrscht Waffenstillstand. Dann ist die Stadt hier für die News noch ungefähr so interessant wie ein MP3-Player für den späten Beethoven. Oder ein Fußballstadion nach Abpfiff. Und mit Stimmen zum Spiel werde ich es nicht rausreißen können, da ist schätzungsweise außer «Tomate! Tomate! Eoeoeo!» nicht viel zu holen.
    Lenny sieht mich besonnen lächelnd an, und ich bereue, gerade kein Wurfgemüse zur Hand zu haben. Mir geht der Job flöten, und der erfreut sich wohl gerade an irgendeiner Tomatentina oben ohne.
    «Jetzt reiß dich mal zusammen! Wir müssen sofort irgendwie zu Telecinco, sonst kannst du mich morgen von Weeze direkt zum Arbeitsamt fahren.»
    «Alter, cinco heißt doch fünf, oder?», grinst mich Lenny an.
    «Ja, und capullo heißt Sackgesicht. Aber das hilft uns beides hier nicht wirklich weiter.»
    «Was bekomme ich, wenn ich dich in weniger als einer Minute zu Telecinco bringe?»
    Ich lasse meinen Blick schweifen und kann beim besten Willen nichts erkennen, das nach Telecinco oder einer extrem schnellen Fortbewegungsmöglichkeit aussieht. Und einen Maxi-Quadrocopter wird er im Survival-Kit 3000 nicht dabeihaben.
    «Ich geb dir ein Bier aus?»
    «Ein Bier?»
    «Komm mir jetzt nicht wieder mit der Geschichte, dass du mit deiner Handynummer auf einem Riesenplakat durchs Bild laufen willst!»
    «Quatsch, natürlich nicht. Mail-Adresse?»
    Lenny drückt eine Klingel hinter sich. Ich schaue ihn fragend an, er zeigt mit dem Finger nach oben. Auf einem Balkon im zweiten Stock steht ein bärtiger Mann mit einer Kamera auf der Schulter. Darauf klebt auf rotem Grund eine große weiße 5.

    Carlos hält uns zunächst für verrückte Touristen, die unbedingt ins Fernsehen wollen, und will uns schon wieder wegschicken. Man kann es ihm nicht verdenken. Drei völlig übermüdete, ungewaschene Gestalten in stinkenden Klamotten sehen nicht unbedingt aus wie Korrespondenten der größten privaten Sendergruppe Europas. Eher wie eine IT-Abteilung auf Betriebsausflug. Verärgert, dass man sich wegen der Tomatenpampe wohl nachher duschen muss, obwohl das eigentlich erst wieder im Oktober auf der To-do-Liste steht.
    Ich flehe Carlos an, seinen Chef anzurufen, was er irgendwann genervt tut. Zu seiner Überraschung erfährt er, dass da tatsächlich jemand aus Deutschland angerufen und einen Reporter angemeldet hat. Er sieht einigermaßen verwundert aus. Ich fühle mich zufrieden und bestätigt wie Justus Jonas, wenn jemand seine Detektivtätigkeit angezweifelt hat und von Kommissar Reynolds erfährt, dass die Drei Fragezeichen ehrenamtliche Junior-Assistenten der Polizeidirektion Rocky Beach sind.
    Carlos fährt sich einmal durch die Mähne und bemerkt wohl, dass ich die tellergroßen Schweißflecke auf seinem schwarzen T-Shirt mit Spiderman-Aufdruck begutachte. Jedenfalls entschuldigt er sich auf Englisch für die defekte Klimaanlage. Die Wohnung sei nur angemietet, um gute Bilder von der Straße zu bekommen. Heute sei ohnehin alles improvisiert, da die Tomatina eigentlich schon am letzten Mittwoch stattfinden sollte. Weil Unbekannte den Mast mit Schinken geklaut hätten, sei sie auf Sonntag verlegt worden. Er fragt, was wir genau von ihm wollen; und ich erkläre ihm, dass ich mich nur kurz vor die Menge stellen und zehn Sekunden Text runterbeten möchte. Ein tiefes «No is a problem» stimmt mich hoffnungsfroh.

    Durch die inzwischen mehrere Zentimeter hohe Tomatensuppe waten wir in die nächste Seitengasse. Ich versuche, die weiße 5 des Telecinco-Logos auf dem Mikrophon der Hintergrundfarbe Rot anzugleichen, indem ich es kurz durch die Pampe auf der Straße wälze. Carlos weist mich mit einem schnellen Satz voller Rrrrs und Lispellauten energisch zurück. Ich würde ihm gerne klarmachen, dass unsere Zuschauer durch die 5, die sie bisher nur als beste Note im letzten Zeugnis vor dem Schulabbruch kannten, sehr irritiert werden könnten. Und dass sie dann vielleicht völlig überfordert umschalten – zum ersten Mal seit dem Ende von Mitten im Leben am Freitagnachmittag. Aber gefühlte vierzig Grad im Schatten lassen meine Widerworte schmelzen. Augen zu und durch.
    Da Carlos keinen Assistenten dabeihat, zieht sich Lenny die Kopfhörer auf, um den Ton zu kontrollieren. Dann kann es losgehen. Als das rote Licht an der Kamera angeht, wird mir bewusst, was für ein erbärmliches Bild ich gerade abgeben muss. Spätestens morgen früh wird mich meine