Katerstimmung (German Edition)
Knöpfen geschrumpfte Augen glotzen mich ausdruckslos an, und diesmal bleibt die Warnung «Starts in a few moments» aus. Ohne zu sehr ins Detail gehen zu wollen: Mein T-Shirt lernt in den folgenden Sekunden große Teile des Mageninhalts des australischen Bierbauchs persönlich kennen. Jetzt erst merke ich, dass Carlos meine Anweisung mit dem Kameraschwenk befolgt hat und voll auf die Alkoholleiche und somit auch auf mich hält. Ich versuche gerade, mich wieder aufzurichten, als ein Wasserstrahl mich zurück auf den Boden presst. Auf einem Balkon über uns hat ein Rentnerehepaar offensichtlich Mitleid mit mir und meinem T-Shirt und beschießt mich mit einem Gartenschlauch. Ich schreie: «No, no, no», und robbe durch den Tomatensud ins Off. Lenny beugt sich lachend über mich.
«Also, das ‹No› am Schluss war, glaube ich, etwas übersteuert. Sollen wir das noch mal drehen?»
Carlos nimmt mir beleidigt das Mikrophon aus der Hand und faselt irgendwas von «micrófono» und «tomate».
Wilhelm fragt mich, ob alles klar sei.
«No is a problem», hauche ich mit letzter Kraft. Ich habe mich nach einer Dusche noch nie so dreckig gefühlt.
Selbstverständlich erlaubt mein Zustand keine weitere Wiederholung des Aufsagers. Um 13 Uhr endet die Schlacht so schnell, wie sie begonnen hat. Ich glaube, ich muss die Jungs hier mal nach Deutschland holen, damit die meinen Landsleuten eine ähnliche Disziplin für die Silvesterböllerei verklickern, unser Pendant des modernen Kompensationskrieges. Da gelten wir immer als bestens organisiert und pünktlich, und dann kann man zwischen dem 28. 12. und 4. 1. nicht einmal zum Supermarkt laufen, ohne aus irgendeinem Fenster eine Wilde Hummel vor die Füße geworfen zu bekommen. Hier herrscht jetzt Friede, Freude, Tomatenkuchen.
Man hätte alle großen Konflikte so lösen sollen. Augustus hat Lust auf Germanenkloppen? Ab in den Teutoburger Wald, eine Stunde austoben und komplett eingeschmiert quengeln: «Varus, gib mir meine Tomaten wieder!» Die Franzosen wollen ein freies, gleiches, brüderliches Zehntausend-gegen-Herrscherpaar-Battle? Tomatina statt Guillotine, und Marie überlegt sich, ob sie noch mal so was Unüberlegtes sagt wie «Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie Tomaten essen». Die Amerikaner möchten mal wieder raus? Freunde einpacken, in den Irak fahren und Handtomaten abfeuern – aber dann auch mal gemeinsam die Suppe auslöffeln und nicht den Tomaten-Mozzarella-Salat dalassen und mit dem Öl abhauen.
Bei meinen bilderreichen Schlachtphantasien merke ich, dass wir fast kein Material der wilden Wurfstunde haben. Außer den Aufnahmen, die Carlos vom Balkon aus gemacht hat, gibt es nichts, womit meine Kollegen in Köln den Rest des Beitrags bebildern könnten. Wir trotten durch die sich leerenden Gassen in Richtung des Telecinco-Übertragungswagens, als mir auf einmal die Auslage eines Souvenirgeschäfts ins Auge springt. Ich erinnere mich wieder an meinen Gedanken von heute Morgen, an die jährliche Gleichartigkeit der Tomatinabilder. Nicht mal an Kleidung, Autos oder Frisuren kann man sich zeitlich orientieren, da diese hier – wenn überhaupt vorhanden – von den Tomaten unkenntlich gemacht werden. Fünf Euro später bin ich stolzer Besitzer der DVD The Red Adventure – Tomatina 2003 .
Der Telecinco-Transporter befindet sich am Ortsrand auf einem extra eingerichteten Pressegelände neben vielen anderen bunten Übertragungswagen mit großen Satellitenschüsseln. Carlos und ich versuchen, eine Verbindung zum Hauptschaltraum des Senders in Köln herzustellen, was uns die ersten fünf Minuten nicht gelingt. Dann scheppert ein müdes «Köln für Buñol» aus der Sprechanlage, und eine studentische Hilfskraft behauptet, eben mit hochprioritären Aufgaben beschäftigt gewesen zu sein. So ein Scheißwort kann man ja nur in der Uni lernen. Und vor allem ist damit vermutlich die Kantine oder das Fertigschreiben eines Facebook-Kommentars gemeint. Wir überspielen einige Szenen von der DVD und im Anschluss daran meinen Aufsager. Da ich mir sicher bin, nicht die ungeteilte Aufmerksamkeit meines Kölner Gesprächspartners geschenkt zu bekommen, bitte ich dreimal darum, Klaus Thomann mitzuteilen, dass er bei meinem Kommentar schon nach «reißende Tomatenströme» rausgehen soll. Mit vollem Mund und eifrig tippend, antwortet die Trantüte lässig: «Okay, ich kleb ein Post-it auf den Server.» Mit so viel Einsatz und Witz schafft der es bestimmt noch mal zum
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