Katerstimmung (German Edition)
Klaus wird damit rechnen, dass ich spätestens morgen früh wieder auf der Matte stehe. Hier muss irgendetwas so Spannendes passieren, dass er auf keinen Fall seinen Auslandskorrespondenten abberufen kann. Prophylaktisch schnappe ich mir einen Packen Zeitungen und suche krampfhaft nach Themen, die auch für deutsche Zuschauer interessant sein könnten. Mit meinem unlängst gelernten Urlaubsspanisch komme ich aber nicht wirklich weit. Ist so komisch auch wieder nicht, auf der Titelseite der FAZ sind «Ich würde sterben für ein Eis» und «Guck mal, so ein Gesichtsbunker!» auch eher selten zu finden. Zumindest verstehe ich, dass das Topthema hier der zunehmende Drogenschmuggel aus Südamerika ist. Und dass Spanien als Umschlagplatz für ganz Europa vermutet wird. Ist ohne brennendes Marihuana-Gewächshaus, Verfolgungsjagd mit Drogenbossen und weinenden Müttern für die News aber erst einmal uninteressant.
Das Handy piept. SMS. Ich nehme einen Schluck Kiwi-Lulo-Saft und blicke auf das Display.
«Hallo Max, Marty hier. Könntest du dich bitte mit den Brasilianer-Namen ein bisschen beeilen? Wir haben schon Ende der Woche die Kundenpräsentation, und in der Agentur ist gerade ziemlich miese Stimmung. Irgendwer hat behauptet, dass ihm wegen Facebook Gehalt abgezogen wurde. Ich drehe noch durch! Grüße, Marty.» Ups.
Ich habe gerade überhaupt keine Lust auf kreative Arbeit. Aber andererseits bin ich natürlich nicht ganz unschuldig am unterkühlten Betriebsklima im Gewächshaus. Ich bitte die lässige Kellnerin mit Nasenpiercing um Stift und Papier, dann blättere ich die Zeitungen als Inspirationsquelle durch. Aus einem Artikel über neue innerstädtische Tempolimits schreibe ich mir die Wörter marzo , rigidez und clave raus. Um noch etwas Sinnlicheres zu finden, blättere ich zur Seite Rock y Pop . Dort finde ich ulises , brazos und ángel .
Nach einer Viertelstunde stehen «Marzinho», «Alex Rigario», «Clavo», «Ulisão», «Brazico» und «Jo Angeló» auf meiner Liste. Und natürlich «Mercadona», der Supermarktheilige. Weil ich neulich gehört habe, dass in der brasilianischen Nationalmannschaft auch ein Spieler namens Hulk spielt, füge ich «Donaldson» und «Homero» hinzu. Als verrückter Außenseitervorschlag kommt noch «Wilhelm» auf die Liste, dann stecke ich sie ein und zahle.
Ich schlendere über einen kleinen schattigen Platz voller herumtobender Kinder. Meine schweren Beine stöhnen: «Ja, das waren noch Zeiten», aber mein Kopf widerspricht. Denn eigentlich machen wir seit drei Tagen genau das. Wir sind noch einmal so wie früher. Jung, wild, unüberlegt. Wir stürzen uns in Abenteuer, rennen vor erwachsenen Spielverderbern weg, schwindeln Papa an, verwüsten Zimmer und bewerfen uns mit Tomaten. Haben kein Outlook und keine To-do-Listen. Fallen hin und stehen wieder auf. Ich wäre nur froh, wenn Ana und ich endlich mit Verstecki aufhören könnten. Das Räuber-und-Gendarme bei der WG-Party war mir wesentlich lieber. Mein Handy piept erneut. Es ist Ana!
«Hi Max, gehe heute Abend ins Luna Mar. Wir sehen uns da! W84U, Ana.»
«Yuuuuuhuuuuu! Tooooomaaaaaaaa!» Innerlich bin ich genauso enthusiastisch wie der sechsjährige Schreihals neben mir, der gerade beim Wettrennen vor allen anderen die Palme in der Mitte des Platzes abgeklatscht hat. Kind sein kann alles! Me muero por un helado . Ich würde sterben für ein Eis.
Lenny und Wilhelm haben nichts dagegen, eine Nacht länger in Barcelona zu bleiben. Aber was erzähle ich Kratzklaus? Wenn ich erst morgen fliege, habe ich drei Fehltage. Da muss man wahrscheinlich direkt mit der Supernanny in die Wuthöhle oder auf die stille Treppe. Ich kann ihn auf keinen Fall anrufen, ohne Themen vorzuschlagen. Recherchereise.
Zusammen mit meinen beiden Reportern wider Willen ziehe ich los, die heißeste Metropole Europas nach verwertbaren Storys abzuklappern. Nach einem Besuch der Touristeninformation wissen wir immerhin, dass es heute keine Kinopremiere, kein großes Konzert und kein Catchmatch der europäischen Women-Wrestling-Challenge gibt. Letzteres, sofern die Frau überhaupt verstanden hat, was Lenny ihr da mitteilen wollte. Selten hat der Ausdruck «mit Händen und Füßen erklären» besser gepasst als jetzt.
Man mag bei inflationären Werbebotschaften vielleicht eher an eine Großstadt wie New York denken, wo ganze Hochhäuser mit riesigen LED-Screens tapeziert sind. Doch was penetrante Werbung angeht, steht Barcelonas Touristenmeile dem
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