Kates Geheimnis
plötzlichen; herzzerreißenden Erinnerung daran, dass Hal tot war.
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»Was hat sich Hal nur dabei gedacht?«, fragte eine tiefe, raue Stimme. Sie klang gebildet, fast geziert, britisch und sehr ärgerlich.
Jill erstarrte. Sie wusste wieder, wo sie war, und hatte gerade die Augen öffnen wollen, ließ sie nun aber lieber fest geschlossen.
»Hal hat getan, was er wollte - ist immer seinen Impulsen gefolgt - das war eben Hal.« Eine weitere Stimme, weniger hasserfüllt, aber dennoch hart. Der Sprecher hatte einen amerikanischen Akzent. Das musste Hals Cousin Alex sein.
»Er hätte sich gar nicht erst mit ihr einlassen dürfen«, sagte die erste Stimme, immer noch rau vor Zorn. »Er hat die Schwierigkeiten ja geradezu herausgefordert. Ach, verdammt noch mal.«
Jill verstand nicht, worüber sie sprachen. Redeten sie etwa von ihr?
»Und nun schaut euch an, was daraus geworden ist«, mischte Lauren sich erregt ein. »Jetzt ist er tot.
Ihretwegen!«
Jill verkrampfte sich. Sie alle gaben ihr die Schuld an dem Unfall. Der Magen drehte sich ihr um.
»Genug davon, alle miteinander«, sagte eine weitere, ältere Stimme. Sie klang erschöpft und stammte sicher von William, Hals Vater.
»Dies ist eine schlimme Zeit für uns alle, und ... «
Plötzlich erstarb seine Stimme, er konnte nicht weitersprechen.
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Jill zerriss es das Herz, um seinetwillen wie um ihrer selbst willen.
»Onkel William, bitte setz dich doch. Lass mich dir nachschenken.«
»Danke«, flüsterte William, der immer noch mit den Tränen kämpfte.
Jill wünschte sich an jeden anderen Ort auf der Welt, nur nicht ins Wohnzimmer der Sheldons. Sie sollte nicht hier sein. Diese Unterhaltung war zu persönlich, zu intim.
»Sie hat wirklich Nerven«, schaltete sich die erste, heisere Stimme wieder ein. Das klang nicht nach einem Kompliment. »Ich frage mich, wie viel genau sie weiß und warum sie hier ist.« Das musste Thomas sein.
»Dein Vater hat Recht. Wir sollten nicht alles noch schlimmer machen, als es schon ist, und irgendwelche Anschuldigungen sind momentan sowieso sinnlos, weil wir nicht genug wissen.« Der Amerikaner wieder. Alex.
»Anschuldigungen«, wiederholte Thomas barsch.
»Sag mir nicht, dass ich ihr nicht Einiges vorzuwerfen habe. Verdammt.«
»Ich will dir nicht vorschreiben, was du zu tun hast.
Aber Onkel William hat Recht. Dies ist eine schwierige Zeit, und wir sollten nichts überstürzen.«
Jemand beugte sich über sie. Jill erschrak und fürchtete, dass man sie dabei erwischen würde, wie 40
sie sich ohnmächtig stellte. »Miss Gallagher?« Das war Alex.
Jill war todtraurig. Sie öffnete die Augen, in denen Tränen brannten, und verachtete sie alle, während ihr Instinkt ihr irgendeine Warnung zuschrie. Ihr Blick traf sofort seinen.
Seine Augen waren ungewöhnlich blau, seine Haut kräftig getönt, sein kurzes Haar schwarz und lockig.
Sie starrten einander an. Dann richtete er sich auf - er war ziemlich groß, wohl über einen Meter achtzig.
»Sie ist bei Bewusstsein.« Alex starrte weiter auf sie herunter. Sein Blick war durchdringend, und plötzlich fürchtete Jill, er würde ihr ansehen, dass sie schon vor einer Weile zu sich gekommen war - und sie belauscht hatte. Jill wollte sich aufsetzen, ihr wurde aber sofort wieder furchtbar schwindlig.
Lauren blickte auf sie herab. »Sie sind in Ohnmacht gefallen. Vielleicht sollten Sie besser noch einen Moment ruhig liegen bleiben.«
»Das ist mir noch nie passiert«, krächzte Jill; es war ihr sehr peinlich, und sie wollte unbedingt schnell wieder aufstehen, um diesem Raum und diesen Leuten zu entkommen. Sie war tatsächlich in Ohnmacht gefallen - und das war nicht dasselbe wie ihre vorherigen Blackouts. »Ich habe nichts gegessen.« Wie lächerlich sich das anhörte. Ihr Blick fiel auf die drei Männer, als sie wieder versuchte, sich aufzusetzen, und diesmal schaffte sie es. Alle starrten sie an. Sie erkannte sie jetzt. William war groß und 41
beleibt und wirkte erschöpft; er hatte weißes Haar, und sie schätzte ihn auf Mitte siebzig, doch er sah gut aus für sein Alter. Mit seinem marineblauen zweireihigen Sakko, seiner hellbraunen Hose und dem Siegelring entsprach er genau ihrer Vorstellung von einem wohlhabenden Aristokraten.
Thomas war sein Erbe. Er war der älteste Nachkomme. Hal hatte mehr als einmal erwähnt, dass sein Bruder, den er vergötterte, ein unverbesserlicher Weiberheld war. Er besaß jene Kombination von gutem Aussehen und Charme, der offenbar
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