Kates Geheimnis
draußen saß, auf der matschigen Wiese, während das Tageslicht am östlichen Horizont heraufkroch. Jill schaute wild um sich.
Leichter Nebel hing über dem Boden, aber sie konnte gerade noch die Mauern des Hauses erkennen, 520
vielleicht fünfzig Meter entfernt. Sie war im Schlaf aus dem Haus gegangen!
Erstaunt schaute Jill an sich herunter. Sie trug ein T-Shirt und eine Jogginghose. Beide waren klatschnass und schmutzig. Sie merkte, dass sie völlig durchgefroren war. Zitternd mühte Jill sich auf die Beine und schob sich den Pony aus dem Gesicht.
Ihre Zähne begannen zu klappern. Sie war noch nie im Schlaf umhergewandelt. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte.
Sie schlang die Arme um sich und rannte zum Haus zurück. Es wurde heller. Der Himmel und der Nebel färbten sich rosig. Wenn sie zum Meer hinüberschaute, konnte sie die rot glühende Sonne über dem Horizont aufgehen sehen.
Jill war immer noch benommen, als sie über die Terrasse in einen Raum eilte, den Alex als
»Musikzimmer« bezeichnete. Zu Kates Zeiten, hatte er erzählt, war die Gesellschaft nach dem Essen für etwa eine Stunde in diesen Raum umgezogen, um den jungen Damen Gelegenheit zu geben, sie am Klavier oder an der Harfe mit ihrem Gesang zu unterhalten.
Jill fand die Flügeltüren weit geöffnet. War sie also auf diesem Wege in der Nacht herausgekommen?
Und wie lange war sie draußen gewesen?, fragte sie sich verwundert. Sie konnte sich nicht daran erinnern, ihr Bett verlassen zu haben, geschweige denn ihr Zimmer oder das Haus.
521
Jill war durcheinander und wirr. Warum hatte sie nicht von Edward als kaltem, gerissenem Verführer geträumt, der Kate nur benutzen wollte?
Unglücklicherweise war er ihr recht sympathisch erschienen, aber es war ja auch nur ein Traum gewesen.
Sie drehte sich um und schloss die Terrassentür.
Dabei erhaschte sie einen Blick auf ihr Spiegelbild in einem goldgerahmten Spiegel an der Wand über einem Tischchen. Jill erstarrte.
Dann schaute sie langsam, zitternd, noch einmal in den Spiegel. Und einen entsetzlichen Moment lang sah sie dort Kate.
Plötzlich packte Alex ihre Schultern. »Herr im Himmel! Was ist denn mit dir passiert?«
Jill stand, in ihren dicken Bademantel gewickelt, im Bad und starrte auf ihr bleiches Gesicht im Spiegel.
Sie kam gerade aus der Dusche, und der Dampf im Raum vernebelte das Glas. Sie war verängstigt. Sie war noch nie im Schlaf herumgelaufen. Was geschah mit ihr?
Sie stand ganz still. Sie wollte die Sicherheit des dampfigen Badezimmers nicht verlassen. Alex war in ihrem Schlafzimmer. Sie konnte ihn mit jemandem sprechen hören - entweder telefonierte er, oder er sprach mit einem der Zimmermädchen.
522
Jill ging hinaus. Alex war vor der Tür auf und ab gelaufen; jetzt blieb er abrupt stehen. »Komm. Setz dich ans Feuer. Bevor du dir noch eine Lungenentzündung holst.«
Sie sah, wie er ihr einen großen Sessel zurechtrückte, ging hinüber und setzte sich hinein. In dem riesigen Polstersessel versank sie förmlich. Es war einfacher, das zu tun, was er sagte, als zu diskutieren.
Jill wollte aufhören zu denken, nur für eine kleine Weile. Aber das ging nicht. Was, wenn sie gerade den letzten Rest ihres Verstandes verlor?
Alex zog sich einen gepolsterten Hocker mit seidenem Paisleybezug heran und setzte sich neben sie. Jill schaute in die tanzenden Flammen. »Jill.« Er nahm ihre Hände in seine. Jill musste ihm in die Augen sehen. »Du holst dir den Tod, wenn du so weitermachst. Das muss aufhören.«
Sie sah ihn starr an. »Ich weiß nicht, was passiert ist«, sagte sie schließlich. »Ich bin im Schlaf nach draußen gegangen. Kannst du dir das vorstellen?« Ihr erzwungen leichter Ton klang schrill.
»Schlafwandelst du öfter?«
»Nein.« Jill fühlte, wie sie die Kontrolle über sich verlor. Sie stand kurz davor, in Tränen auszubrechen.
»So was hab ich noch nie gemacht. Ich habe Angst.«
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte er ruhig.
»Sobald du fertig bist, fahren wir nach London 523
zurück. Ich möchte, dass du zu meinem Arzt gehst. Er ist wirklich nett. Er wird dich gründlich untersuchen und dir etwas verschreiben, damit du dich beruhigst und besser schlafen kannst. Du brauchst ein paar Tage Pause, Jill. Ruhe vor Kate.« Er lächelte sie warmherzig an.
Jill starrte steif zurück, und in ihren Schläfen begann es zu hämmern. Er erteilte ihr Befehle. Er befahl ihr, die Suche nach der Wahrheit aufzugeben.
Warum? »Alex, ich bin so nah
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