Kates Geheimnis
klarer wurden. Sie wusste, dass sie schlief und träumte - und sie wollte nicht träumen. Ihr Körper blieb steif und verspannt, sogar noch im Schlaf.
Aber es war ja nur eine Dinner-Party, beruhigte sie sich. Eine lange Tafel war gedeckt, mit einer blütenweißen Tischdecke, Kristallgläsern, goldenen Platztellern und wunderhübschen Tellern mit Goldrand. Darüber hingen drei oder vier riesige kristallene Lüster, die den Raum erhellten und die Gläser im Kerzenlicht funkeln ließen. Einige Dutzend Damen und Herren waren anwesend, alle in prächtiger Abendgarderobe, die Herren in schwarzen Jacketts, die Damen in kostbaren Kleidern aus Seide, Taft oder Chiffon in allen Farben des Regenbogens.
Edelsteine glitzerten an fein geschwungenen Hälsen, baumelten von zarten Ohrläppchen und blitzten an zierlichen Händen. Lachen vermischte sich mit den ruhigeren Tönen angenehmer Unterhaltung und dem melodischen Klingen von Sektflöten und Weingläsern.
Kate war umwerfend schön. Ihr bronzefarbenes Spitzenkleid ließ gewagterweise ihre Schultern und 517
einen großen Teil ihres Dekolletés frei. Ihre Locken waren diesmal gebändigt und auf dem Hinterkopf mit diamantbesetzten Spangen in Form von Schmetterlingen hochgesteckt. Um den Hals trug sie ein goldenes Medaillon. Jill erkannte es sofort, und ihre ängstliche Spannung wuchs. Sie wusste, dass es zwei exquisite Miniaturporträts von Kate und Anne enthielt. Edward saß Kate gegenüber neben Anne. In seinem Smoking
und dem weißen Hemd war er eine herausragende Erscheinung - unglaublich weltmännisch, elegant, unwiderstehlich. Er lächelte und hatte nur Augen für Kate.
Jill konnte Anne nicht deutlich sehen. Ihr Kleid war wohl hellblau. Ihr dunkles, lockiges Haar schien sie offen zu tragen. Aber ihr Gesicht wollte einfach nicht deutlicher werden. Neben Edward verschwand Anne irgendwie unter den anderen Gästen, als sei sie völlig unscheinbar, nur ein Schatten ihrer selbst.
Edward wartete, bis auch Kate ihn ansah, und hob dann dezent die Sektflöte, ein heimliches Anstoßen auf Kate, auf sie beide.
Kate verbarg ihr Lächeln und senkte den Blick.
Anne beobachtete die beiden.
Jill drehte sich auf den Rücken. Sie wollte aufwachen. Sie wollte nicht wissen, was als Nächstes geschehen mochte. Kate war glücklich, Edward war glücklich, es war zu schön, um wahr zu sein ...
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Ein nächtlicher Garten, erfüllt mit dem schweren Parfum von Hyazinthen, Fresien, Lilien und duftenden Stauden. Eine sternklare Nacht. Die Gäste wandelten draußen umher. Drinnen spielte ein kleines Streichorchester. Jill hatte noch nie eine Harfe gehört, aber nun erkannte sie den melodiösen Klang. Die angenehme Musik strömte nach draußen in die Nacht.
Anne, Edward und Kate. Die drei standen an einer Balustrade in der Nähe eines Springbrunnens. Edward sagte etwas Amüsantes. Kates Lachen war leise und rauchig. Annes hatte einen überraschend hohen, schrillen Klang.
Ich muss sofort aufwachen, bevor irgendetwas Schreckliches passiert, dachte Jill und grub die Finger in das Bett unter ihr. Es war kalt und nass.
Warum war es kalt und nass?
Warum fror sie so furchtbar?
Jill erstarrte vor Angst.
Anne entschuldigte sich und ging.
Kate und Edward sahen ihr nach: Dann berührte Edward Kates
nackte Schulter. Sie wandte sich ihm zu und betrachtete ihn mit dem weichen Ausdruck der Liebe in den Augen.
Vor Jill schoss eine Mauer in die Höhe.
Nein! Sie versuchte zu schreien, die Wand war jetzt so nah vor ihr, dass sie sie anfassen, dagegen drücken 519
konnte, aber es nützte nichts, die Wand bewegte sich nicht. Sie war kalt und fühlte sich rau an.
Vor ihr erschien Kates Gesicht. Glühend vor Liebe und Lachen, das Medaillon an seinem Samtband um ihren Hals.
Und im nächsten Augenblick wandelte sich das Bild. Kates Gesicht war vor Angst verzerrt. Tränen hinterließen weiße Spuren in dem Dreck, der ihre porzellanhelle Haut verkrustete. Ihre Augen waren weit aufgerissen, flehend, voll Verzweiflung, und sie streckte die Hand aus, immer weiter, und in dieser Hand ...
Mit einem Schrei schnellte Jill hoch.
Einen Moment lang wusste sie nicht, wo sie war, so sehr war sie noch immer in dem Traum gefangen. Sie sah Kate vor sich, die ihr mit angstverzerrtem Gesicht die Hand entgegenstreckte.
Jill krallte sich in ihr Laken. Und erst da verrauchte der Traum, denn Jills Finger gruben sich in nasse, kalte Erde.
Sie schnappte nach Luft und merkte in diesem erschreckenden Augenblick, dass sie
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