Kates Geheimnis
dran. Ich fühle es. Mir spukt etwas im Kopf herum, eine Kleinigkeit, die ich übersehen habe, und ich weiß, dass ich bald drauf kommen ... «
»Hast du denn nicht gehört, was ich gesagt habe?«, fragte er ungläubig.
Sie blickte auf. »Ich habe wieder von ihr geträumt, aber diesmal waren Edward und Anne dabei.«
»Das ist alles?«
»Nein, das ist nicht alles!«, schrie Jill. Sie begann zu zittern. Ihr war so kalt. Die endlose heiße Dusche hatte die Kälte nicht aus ihren Knochen vertreiben können, und Jill wusste auch, warum - weil die Kälte in ihrem Herzen saß, nicht in ihrem Körper. »Es war so lebendig, so wirklich, Alex, es war, als hätte ich neben ihnen gestanden! Ich konnte sie alle deutlich sehen, und Edward und Kate waren verliebt.« Jill schaute Alex an, aber sie sah nur Edwards attraktive, aristokratische Erscheinung. Er strahlte vor Liebe und 524
Glück. »Er hat sie nicht umgebracht. Er hat sie von ganzem Herzen geliebt!«
Alex legte einen Arm um sie und führte sie zum Tisch. »Ich habe eine tolle Idee. Wie wär’s, wenn du für ein langes Wochenende irgendwo an die Küste fährst? Wir haben ein paar sehr schöne Badeorte in England, weißt du. Vielleicht kann ich mich auch für ein Weilchen loseisen und mitkommen.«
Sie sahen sich an. Verzweifelt versuchte Jill den Ausdruck in seinen Augen zu deuten, aber sie konnte es nicht. »Seien wir doch mal ehrlich: Du willst, dass ich nach Hause fahre. Um mich zu erholen«, sagte sie.
Er rutschte auf dem Sitz herum. »Das ist wahr. Und warum kommt dir das so verdächtig vor? Du bedeutest mir etwas, und ich will nicht, dass du dir so was antust.«
»Deine Familie hat Kates Tod vertuscht«, fauchte Jill. »Deine Familie, Alex.«
»Dafür gibt es keinen Beweis«, stellte er nüchtern fest. »Du steigerst dich in einen Traum hinein, Jill, weil du verletzt bist und einsam, und weil du dich nach einer eigenen Familie sehnst.«
»Und wenn ich einen Beweis dafür finde?«
»Dann würde ich ihn gern sehen«, sagte Alex gelassen.
»Du als Allererster«, gab sie zurück und wandte sich ab. Ihre Tasche stand auf einem der Stühle am 525
Bett. Jill setzte sich und wühlte darin herum. Sie holte das Hochzeitsfoto ihrer Eltern heraus, das mit Jack und Shirley und den Trauzeugen und Shirleys Eltern mit Peter dahinter. Plötzlich verschwamm ihr alles vor den Augen.
Schlafschön, Mäuschen.
Gute Nacht, mein Schatz.
Jill fühlte sich so entsetzlich allein. Sie hätte alles gegeben für einen Augenblick in den Armen ihrer Eltern.
»Was ist das?«, fragte Alex und schlenderte herüber.
Jill reichte ihm das Foto. »Meine Eltern, ihre Trauzeugen, meine Großeltern mütterlicherseits und Peter.«
Alex’ Augen weiteten sich erstaunt.
»Was ist?«, fragte Jill scharf, aber noch während sie sprach, spukte ihr der letzte Traum durch den Kopf, Edward, der Kate anlächelte, sie wortlos mit dem Sektglas grüßte, Edward ...
»Nichts«, sagte Alex und gab ihr das Bild zurück.
Jill stand auf und starrte auf das Foto, starrte auf Peter. »Oh Gott«, keuchte sie. »Jetzt weiß ich, warum er mir so bekannt vorkam. Auf diesem Bild ist mein Großvater fast sechzig - und er sieht aus wie eine ältere Ausgabe von Edward auf diesem Porträt in Uxbridge Hall - oder nicht?«, rief sie herausfordernd.
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Alex sah ihr in die Augen. Schließlich, widerstrebend, sagte er: »Ja.«
1. Dezember 1907
Liebes Tagebuch,
Ich weiß, nun habe ich schon seit mehreren Monaten nichts geschrieben, aber es ist so viel geschehen, dass ich kaum weiß, wo ich anfangen soll!
Kate fehlt mir so, dass ich nicht weiß, wohin mit mir -
und doch fühle ich eine rätselhafte Erleichterung, da sie nun nach Hause gefahren ist. Sie ist in großer Eile nach New York abgereist, so rasch, dass ich es kaum begreifen konnte. Aber Mutter ist natürlich hocherfreut darüber, dass sie fort ist. Ich glaube, Mutter weiß von Kates Affäre - aber der Reihe nach.
Wie merkwürdig das ist. Ich erinnere mich daran, wie wir, als Kate noch da war, immer zusammen bei allen Partys und Festlichkeiten erschienen und wie niemand mich je bemerkte. Alle hatten immer nur Augen für Kate - sowohl die Männer als auch die Frauen, und das, obwohl ich ebenso reich bin wie sie, aber natürlich aus einem alten Adelsgeschlecht stamme. Wie sehr sich das verändert hat, seit Kate nicht mehr hier ist. Wenn ich nun zu einem Dinner gehe oder auf einen Ball oder auch nur zum Einkaufen in die Bond Street, nimmt man
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