Kates Geheimnis
waren, nicht im Haus?
Was, wenn es die Polizei war? Sollte sie um Hilfe schreien?
Als hätte er ihre Gedanken erraten, machte er warnend »Schscht« an ihrem Ohr. Ihre Blicke trafen sich. Und Jill nickte.
Wenn das ein Fehler war, würde sie es schon merken - und zwar bald.
Endlose Minuten vergingen - eine grässliche Ewigkeit. Und plötzlich wurde das Innere des Turms von einer starken Taschenlampe erleuchtet, die sie blendete. »Wie reizend«, sagte eine bestens vertraute Frauenstimme.
Beim Klang von Lucindas Stimme zuckte Jill zusammen. Einen Moment lang war sie völlig 699
perplex. Und dann schrie sie: »Lucinda, holen Sie Hilfe!«
»Mr. Preston, bitte treten Sie beiseite«, gab Lucinda ruhig zurück. Jill verstand gar nichts mehr. Alex hielt sie immer noch gegen die Wand gedrückt, und er rührte sich nicht. Dann richtete er seine Taschenlampe auf Lucinda.
Ihr Gesicht war eine ausdruckslose Maske.
Und dann sah Jill den großen, glänzenden Revolver in ihrer Hand. Er war auf sie beide gerichtet.
23. Oktober 1908
Sie würde sterben.
Kate lag zusammengerollt auf der kalten, nassen Erde. Sie zitterte und war zu schwach, um sich zu bewegen. Drei, vier, fünf Tage waren vergangen, seit Anne sie im Turm eingeschlossen hatte. Am Anfang hatte Kate noch die Tage gezählt. Am Anfang hatte sie noch gehofft. Sie hatte um Hilfe geschrien, bis sie keinen Ton mehr herausbrachte und ihre Kehle sich schrecklich rau und trocken anfühlte. Niemand hatte ihre Schreie gehört; niemand war ihr zu Hilfe gekommen. Es gab keine Möglichkeit, aus dem Turm zu entkommen; die Tür war fest verschlossen. Ihre Hoffnung war erloschen.
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So also würde sie sterben.
Denn Anne hatte sie hier ihrem Tod überlassen, ohne Essen, ohne Wasser.
Kate wurde wieder von einem Krampf geschüttelt.
Sie konnte kaum noch die Arme um sich schlingen, so schwach war sie schon. Kate stöhnte und wiegte sich leicht hin und her, denn der Schmerz war unerträglich. Diesmal dauerten die Krämpfe viel länger als vorher. Schließlich schrie Kate auf.
Und als der Schmerz verebbte, fühlte Kate warme Nässe zwischen ihren Schenkeln, und eine Träne lief ihr über die Wange. Sie krallte sich in die nasse Erde unter ihrem Körper, aber da war kein Kissen, nichts, das ihr ein wenig Trost spenden konnte.
Sie verlor Edwards Kind, und sie verlor ihr Leben.
Wie sie ihn vermisste. War er verzweifelt auf der Suche nach ihr? Oder nahm er an, dass sie ihn verlassen hatte, weil sie Peter bei seiner Mutter gelassen hatte?
Sie würde ihn niemals wiedersehen. Diese Erkenntnis tat schrecklich weh.
Sie würde ihren Sohn niemals wiedersehen. Diese Erkenntnis war entsetzlich.
Weitere salzige Tränen fielen.
Plötzlich zerriss ein lautes, metallisches Klicken die Stille im Turm, die schmerzliche Ruhe, ihre Gedanken.
Kate schlug mühsam die Augen auf.
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Mit rasendem Herzen sah sie ungläubig zu, wie sich die Tür langsam öffnete. Sie kauerte sich zusammen und erwartete, Anne zu sehen.
Aber da stand ein fremder Mann in derber Kleidung, einen Eimer und ein Päckchen in der Hand, und starrte sie an.
Wasser! Er musste ihr einfach Wasser bringen -
vielleicht würde sie doch nicht sterben! Kate wollte sich aufrichten. Unbedingt. Aber sie hatte keine Kraft, mehr zu tun, als dazuliegen und ihm zuzusehen.
Er stellte den Eimer neben der Tür ab und legte ein Bündel in Packpapier daneben.
Warten Sie. Kate merkte, dass sie nicht laut gesprochen hatte, und versuchte, ihre trockenen Lippen zu befeuchten, aber es ging nicht. »Warten Sie.« Aber ihr Schrei war heiser, leise, nicht zu hören
- ein armseliger Versuch.
Er drehte sich um und ging.
Mit einem lauten Klicken wurde die Tür verschlossen.
Kates Hoffnung verflog. Er hatte sie hier liegen gelassen, damit sie starb. Sie wollte schreien, ihm nachrufen, mit den Fäusten den Boden bearbeiten, weinen. Aber sie tat nichts von alledem. Sie war zu schwach, sie konnte sich nicht bewegen. Also blieb sie liegen und kämpfte keuchend gegen Wellen von Übelkeit und Schmerz.
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Und dann dachte sie, aber er hat mir Wasser gebracht. Ich werde nicht sterben.
Kate rang um Mut, Entschlossenheit, Kraft. Und sie machte sich auf den endlosen, schmerzvollen Weg zu dem Wassereimer, kriechend, einen schmerzhaften Zentimeter nach dem anderen. Sie musste mehrmals eine Pause einlegen, denn sie keuchte furchtbar, und ihr Herz schlug so schnell, dass sie sich fragte, ob es sie im Stich lassen wollte. Sie war so schwach. So schwach
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