Kates Geheimnis
bittersüßen Moment.
»Anne!«
Anne lächelte nicht. »Keine Angst. Ich werde dich schon nicht erschießen. Mutter, fessle ihre Hände.«
Ungläubig beobachtete Kate, wie Lady Bensonhurst eine Schnur hinter ihrem Rücken hervorholte. »Anne!
Du bist ja wahnsinnig! Was tust du denn nur?«, schrie Kate.
»Sei still«, befahl Anne. »Ich entführe dich, Kate.
Verstehst du, du wirst einfach verschwinden, aus 687
meinem Leben, aus Edwards Leben, und das für immer.«
688
Fünfundzwanzig
20. Oktober 1908
O bwohl sie gefesselt war wie ein Schwerverbrecher, an Händen und Füßen so eng verschnürt, dass sie kein Gefühl mehr darin hatte, war Kate endlich vor schierer Erschöpfung eingeschlafen.
Sie erwachte, als die Kutschentür neben ihr aufgeschlossen wurde. Sie sah trübes Zwielicht - und dann die ernsten, angespannten Gesichter von Anne und Lady Bensonhurst.
Kate straffte sich und sah Anne gerade in die Augen. »Wo sind wir?« Sie waren seit gestern Nachmittag ohne einen einzigen Aufenthalt durchgefahren - sie hatten nur lang genug angehalten, um den Kutscher bei einem Gasthaus am Wege abzusetzen. Von da an hatte Anne kutschiert, und Lady Bensonhurst hatte entschieden, bei ihrer Tochter zu sitzen. Bevor sie die Fenster zugezogen hatten, hatte Kate nur sehen können, dass sie in nördlicher Richtung fuhren. Anne lächelte leise. »Steig aus.«
Kates Anspannung steigerte sich. Annes überlegenes Lächeln gefiel ihr gar nicht. Auch das unnatürliche Leuchten in ihren Augen machte ihr Angst. Ihre Freundin hatte den Verstand verloren - es 689
gab keine andere Erklärung für ihr Verhalten. »Anne, ich möchte mit dir reden«, begann sie.
Anne hielt die Pistole noch höher. »Mutter, binde ihre Füße los, damit sie laufen kann.«
Lady Bensonhurst schaffte das, was Kate die ganze Nacht lang verzweifelt versucht hatte, mit Leichtigkeit; sie nahm ein kleines Messer und durchtrennte die Schnüre, an denen Kate sich die Finger blutig gezerrt hatte. Sofort strömte das Blut wieder in Kates Füße. Das tat so weh, dass sie aufschrie.
Anne fuchtelte mit der Pistole herum. »Du sollst aussteigen, Kate.« Kate fuhr zusammen und biss sich auf die Lippe. »Unsere Freundschaft muss auch dir noch etwas bedeuten«, flehte sie.
Annes Gesicht erstarrte auf beängstigende Weise.
Das Ausmaß ihrer Entschlossenheit und ihrer Wut war unübersehbar.
Kate zögerte nicht länger. Sie kam schwankend auf die Füße, konnte sich aber mit den gebundenen Händen nirgends festhalten. Anne packte ihren Ellbogen und zog sie grob aus der Kutsche. Dann schubste sie sie vorwärts.
Und Kate keuchte auf. Sie waren in Coke’s Way.
Aber das kleine Landhaus, das den Collinsworths gehörte, war verschlossen. Es gab hier keinen neuen Pächter. Edward hatte ihr zärtlich erklärt, dass er das 690
Haus nie wieder vermieten würde. »Was soll das?«, rief Kate.
Anne schubste sie weiter. Sie schien jetzt fast übermenschliche Kraft zu besitzen. »Für wie dumm hältst du mich eigentlich, Kate? Glaubst du, du könntest mir von dem Kind erzählen, ohne dass ich daraufhin jede Einzelheit in deinem Leben seit deiner Abreise in Erfahrung bringen würde?« Ihr Lachen war kurz und dumpf. »Erst vor kurzem habe ich herausgefunden, dass Edward dich hierher geschickt hat, um Peter zu bekommen. Ist das nicht eine herrliche Ironie? Denn hier wirst du verschwinden, direkt vor seiner Nase - an einem Ort, an dem er dich niemals suchen würde. Ich habe mir tagelang überlegt, wo ich dich verstecken soll!«
Kate weigerte sich weiterzugehen und drehte sich zu Anne um. »Ich werde das nicht mitmachen. Anne, siehst du denn nicht, dass du deine Zukunft mit Edward nicht auf ein solches Fundament bauen kannst? Du kannst dein Leben mit einem Menschen doch nicht auf Lügen oder gar einen Mord gründen!«
Kate begann zu zittern. Sie glaubte nicht, dass Anne ihren Tod wollte. Sie konnte das nicht glauben. Anne würde sie verschwinden lassen, und, gütiger Gott, Edward würde vielleicht glauben, dass sie mit einem anderen davongelaufen war, aber wenn Anne Edward geheiratet hatte, würde sie sie gehen lassen. Oder?
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Kate wusste, dass sie dieses Szenario nicht konsequent durchdacht hatte. Aber das konnte sie auch nicht. Die Konsequenzen waren zu entsetzlich.
»Lady Bensonhurst«, rief Kate. Annes Mutter stand neben der Kutsche und sah die beiden nicht an - als würde sie auf diese Weise nichts von dem mitbekommen, was sich vor ihren Augen abspielte.
»Bitte
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