Kates Geheimnis
wie noch nie in ihrem Leben. Es machte ihr große Angst.
Endlich schaffte sie es bis zu dem Eimer. Im Wasser schwamm ein
Becher. Kate hatte noch niemals solchen Durst gehabt - sie hatte noch nie etwas so verzweifelt gewollt wie dieses Wasser. Ihr Durst gab ihr die Kraft, sich aufzusetzen und nach dem Becher zu greifen. Sie verschüttete die Hälfte über Kinn und Brust.
Und dann hielt sie inne.
Ihr Verstand, der jetzt auf so merkwürdige Weise arbeitete, kam zu einem entsetzlichen Schluss. Sie war seit Tagen, vielleicht sogar seit einer Woche hier eingeschlossen. Was, wenn er erst nach einer weiteren Woche wiederkam? Sie musste sich das Wasser einteilen. Kate ließ den Becher aus ihren Fingern gleiten, zurück in den Eimer, und Verzweiflung senkte sich auf sie wie eine schwere eiserne Kette.
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Sie konnte Essen riechen. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen, und sie öffnete das Paket. Es enthielt altes Brot und schimmeligen Käse. Kate fühlte keine Enttäuschung. Der Anblick war herrlich.
Sie machte sich über das Brot her, stopfte sich den Mund voll und brach ein Eckchen Käse ab, konnte aber doch nur ein paar Bissen essen. Dann brach sie völlig erschöpft zusammen, unfähig, sich zu bewegen.
Es wurde Nacht. Sie schlief.
Als Kate die Augen öffnete, dachte - und hoffte -
sie, es ginge ihr schon etwas besser, und als sie hinaufschaute zu den Löchern im Dach, sah sie am Himmel glitzernde Sterne und die leuchtende Mondsichel. Bittere Traurigkeit überkam sie, und sie vergoss noch mehr Tränen, während sie an all jene dachte, die sie liebte und schrecklich vermisste, die sie vielleicht niemals wiedersehen würde. Lieber Gott, sie war zu jung, um zu sterben.
Vielleicht, nur vielleicht, würde sie ja weiterleben.
Wenn Gott ein Wunder geschehen ließ. Aber für den Fall, dass sie nicht weiterleben würde, musste sie noch etwas tun.
Anne durfte damit nicht davonkommen.
Langsam nahm Kate das Medaillon ab. Sie schien eine Ewigkeit
dafür zu brauchen, ihre Finger wollten ihr nicht gehorchen, und als sie fertig war, musste sie sich ein wenig ausruhen. Dann begann sie einen weiteren 704
langen Weg - sie kroch zentimeterweise auf die nächste Wand zu. Mit vielen Pausen, um sich auszuruhen. Es dauerte ewig. Und sie brauchte dafür mehr als einen Ansporn, sie brauchte absolute Entschlossenheit. Und als sie dort war, hatte sie es noch nicht geschafft. Irgendwie setzte sie sich auf, indem sie sich an der Wand hochzog. Ihre Finger waren taub und bluteten.
Und dann begann sie, mit dem Medaillon eine Botschaft in den Stein zu ritzen.
Eine Botschaft für jemanden, der sie einmal hier finden würde - für irgendjemanden.
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Sechsundzwanzig
S oll das ein Witz sein?«, fragte Jill ungläubig, und der Magen drehte sich ihr um vor Angst. Denn sie wusste, dass es kein Scherz war. Lucindas Gesicht -
und die Pistole in ihrer Hand - ließen keinen Zweifel daran.
Alex’ Griff um ihre Taille verstärkte sich, als wolle er ihr bedeuten, kein Wort zu sagen.
»Ich halte nicht viel von Scherzen, sie sind pure Zeitverschwendung und so was von amerikanisch«, erwiderte Lucinda voll Verachtung. »Schämen Sie sich, Mr. Preston«, fügte sie hinzu. »Dass Sie ihr erlauben, den guten Namen der Collinsworths in den Schmutz zu ziehen.«
Jill starrte sie immer noch ungläubig an, obwohl sie sehr wohl verstand, was vor sich ging. »Lucinda - was tun Sie bloß?« Aber sie wusste es. Bei Gott, sie wusste es. Was hatte Thomas gesagt? Dass Lucinda der Familie mindestens so treu ergeben war wie jeder Collinsworth selbst? Lucinda, die seit über zwanzig Jahren Uxbridge Hall leitete. Lucinda, die ebenso viel über Kate und Anne und Edward wusste wie die Familie.
Lucinda, die ihr eine Freundin gewesen war. Oder zumindest war es ihr so vorgekommen. Und sie 706
musste da draußen noch einen Komplizen haben, das wurde Jill jetzt klar.
Wenn es Lucinda nicht egal war, ob sie selbst ums Leben kam, dann hatte jemand anderes die Bremsleitungen durchgeschnitten. Aber konnte das Alex gewesen sein? Jill fiel wieder ein, dass William nach Stainesmore gekommen war. Entweder mit Margaret - oder mit Lucinda, und Jill hatte einfach nur angenommen, dass seine Beifahrerin seine Frau sein musste.
Lucinda sah sie ernst an. »Ich tue nur, was Mr.
Preston nicht geschafft hat, meine Liebe. Ich werde verhindern, dass Sie die Collinsworths zerstören«, sagte sie. »Ich habe die letzten fünfundzwanzig Jahre meines Lebens dieser Familie gewidmet. Ich
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