Kates Geheimnis
halten Sie Ihre Tochter zurück, bevor sie ein schwerwiegendes und niederes Verbrechen begeht!«
Lady Bensonhurst sah Kate an. Sie war weiß wie die Wand. Ihr Gesicht war verzerrt, die Augen aufgerissen, mit dunklen Ringen darunter. Kate wünschte sich gefestigte Moralvorstellungen. Was sie sah, war Resignation.
»Los«, knurrte Anne und schubste Kate weiter -
aber nicht auf das Haus zu.
Vor ihnen lag der Turm.
Kate erstarrte.
Sie hatte diesen Turm immer gehasst. Sie war nicht ein einziges Mal hineingegangen. Edward hatte sie damit aufgezogen. Er hatte ihr gesagt, der Turm sei romantisch und entzückend, das fänden alle Gäste auf Coke’s Way. Kate zitterte nicht mehr, sie zuckte.
»Bitte tu das nicht«, flüsterte sie durch klappernde Zähne.
Brutal stieß Anne sie weiter. Die schwere hölzerne Tür stand offen. Kate blieb stehen. Sie würde da nicht reingehen - sie konnte nicht.
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Der Turm, das wusste sie, würde ihr Tod sein.
»Rein da«, sagte Anne und schubste sie durch die Tür.
Im Turm war es kalt, feucht und stickig. Kate konnte zuerst gar nicht sehen - ihre Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Das Dach war teilweise verschwunden, und hoch über ihr, weiter als sie springen oder klettern konnte, fehlten auch Teile der Mauer. Wenn diese Löcher niedriger gelegen wären, dachte Kate verzweifelt, hätte sie sich durchzwängen und in die Freiheit entkommen können.
Freiheit. Würde sie jemals wieder frei sein?
»Wo ist Peter?« Annes Stimme schnitt grell durch die düsteren Schatten und die beängstigende Stille im Turm.
Kate fuhr herum. »Zu Hause.«
»Du lügst. Das sehe ich dir an. Ich werde nicht zulassen, dass dieser Bastard meinem Sohn den Rang streitig macht.« Annes große Augen blickten entschlossen. Ihre Pupillen wirkten riesig.
Kate keuchte. Sie bekam Platzangst. »Ich will nicht hier sein. Lass mich nicht hier drin. Ich bekomme keine Luft!«
»Dann wirst du wohl sterben - ersticken«, sagte Anne kalt. »Ich schlage dir einen Tausch vor. Dein Leben - für Peter.«
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Kate starrte sie an. »Wie kannst du mich so hassen.
Ich habe dich geliebt wie eine Schwester. Und ich schwöre dir, wenn du Peter auch nur anrührst, wirst du dafür bezahlen! Edward wird dafür sorgen! Anne, hör auf, denk nach, ich bitte dich, überleg dir gut, was du hier tust! Lass mich gehen - ich schwöre, niemand wird je erfahren, was in den vergangenen zwei Tagen geschehen ist.«
Anne starrte zurück. »Du bist diejenige, die verrückt ist, Kate. Du glaubst, du könntest mein Leben zerstören, meine Träume, meine Liebe. Nur keine Sorge. Ich werde Peter finden, genauso wie ich herausgefunden habe, dass du während deiner Schwangerschaft hier warst und nicht in New York.«
Anne wandte sich zum Gehen.
Kate zitterte noch heftiger. »Bitte nimm mir die Fesseln ab.« Sie lief Anne nach, stolperte und fiel auf die Knie. Sie schluchzte erstickt. Das ganze Ausmaß ihrer schlimmen Lage, ihre Hoffnungslosigkeit, brach über sie herein. Kate blickte auf. Anne stand in der Tür. Hinter ihr war nichts zu sehen außer dem dunklen, wolkigen Himmel und den grotesken Schemen von Bäumen, die von unzähligen Stürmen verkrüppelt und verwachsen waren. »Erinnerst du dich an Weihnachten vor zwei Jahren?« Sie weinte.
»Wir wollten auf ewig Freundinnen sein. Du hast mir doch das Medaillon geschenkt.« Anne sah sie unverwandt an.
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»Natürlich erinnere ich mich daran. Das war, bevor du mir in den Rücken gefallen bist.«
Kate blieb auf dem Boden liegen. Ihre Blicke trafen sich. Und dann wurde Kate von heftigem Schwindel gepackt. Sie schloss die Augen und versuchte, sich zu beherrschen, aber sie schaffte es nicht. Sie übergab sich.
Das war nicht nur ein kurzer Krampf, sondern sie wurde immer wieder von Würgen geschüttelt. Und als es vorbei war, weinte Kate über den Albtraum, der für sie Wirklichkeit wurde.
»Trägst du noch einen kleinen Bastard in dir, Kate?« Annes kalte, entfernte Stimme drang durch Kates Elend und Trauer wie ein Messer und hinterließ nichts als ein plötzliches Gefühl der Vergeblichkeit.
Sie war erschöpft, niedergeschlagen, und wünschte, viel zu spät, sie hätte Edward von der Szene mit Anne erzählt. »Ja«, flüsterte sie, ohne den Blick zu heben.
»Hab Mitleid«, keuchte sie.
Die Tür schlug zu. Kate hörte ein Schloss einrasten.
Sie brach als elendes Häuflein zusammen, und die feuchte Erde wurde ihr Bett und Kissen.
»Bitte, Edward, du musst mich finden«,
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