Kates Geheimnis
sei sie bereits tot. Darin fand sie das Medaillon. Anne erkannte es sofort.
Zuerst wollte sie es fortwerfen. Stattdessen nahm sie sich die Zeit, es zu öffnen, und erblickte die beiden Porträts von zwei so jungen, so naiven, lächelnden Mädchen - zwei besten Freundinnen.
Eigenartig berührt ließ sie es wieder zuschnappen und unter Mantel und Kleid in ihr Mieder gleiten.
Dann fegte sie jede Reue - jedes Bedauern - einfach beiseite. War Kate tot?
Anne kniete sich hin und hielt eine Hand unter Kates Nase. Sie schien noch zu atmen, aber sehr schwach.
Sie zerrte sie durch den Turm hinaus ins Freie.
Immer noch fielen dicke weiße Flocken.
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Keuchend schleifte Anne sie auf das Haus zu, das jetzt mit Brettern vernagelt war. Als sie auf der Rückseite ankam, blieb sie stehen, schnappte nach Luft und ließ Kate los. Wenn Kate noch nicht tot war, entschied sie, dann würde sie es sehr bald sein.
Draußen im Licht konnte Anne sie sich endlich genau ansehen. Sie war nicht nur ausgezehrt und hässlich, sie sah auch schon aus wie eine Tote. Jetzt würde Edward sie nicht mehr schön und bezaubernd finden.
Die Klapptür zum Kartoffelkeller war offen. Anne zögerte keinen Moment. Sie schob Kate über den Rand des Schachtes und hörte sie mit einem dumpfen Geräusch auf dem gestampften Boden unten aufschlagen.
Sie schloss die Klappe und das Vorhängeschloss.
Dann verließ sie Coke’s Way und ging über die Straße zu der Kirche, in deren Auffahrt sie ihre Kutsche stehen gelassen hatte.
Und tief unten im Kartoffelkeller herrschte vollkommene Finsternis.
15. Januar 1909
Liebes Tagebuch,
ich habe seit einiger Zeit nichts mehr geschrieben.
Gerade bin ich von einer weiteren Reise nach Stainesmore zurückgekehrt. Meine endgültig letzte Fahrt dorthin, nehme ich an. Denn ganz sicher werde 722
ich Edward nicht gestatten, dorthin zu fahren, wenn wir verheiratet sind. Für uns beide gäbe es dort nur verstörende Erinnerungen.
Es ist vorbei. Kate ist tot. Ich habe mich selbst davon überzeugt. Mutter und ich haben nicht ein einziges Mal über unser Geheimnis gesprochen. Das ist wohl das Beste, denn es gibt auch nicht viel zu sagen. Ich glaube tatsächlich, Mutter fürchtet sich ein wenig vor mir. Aber das kann ich nicht ändern. Ich denke, sie hat niemals wirklich geglaubt, dass ich die nächste Countess of Collinsworth werden würde. Ich habe nie daran gezweifelt.
Die Hochzeit wird im August stattfinden. Ganz London spricht von nichts anderem, meine Heirat gilt als die großartigste Verbindung unserer Zeit. Ich bin ja so aufgeregt. Ich kann es kaum erwarten.
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Siebenundzwanzig
J ill stellte den Motor des Lamborghini ab, ließ aber die Scheinwerfer an. Sie beleuchteten die Vordertür von Stainesmore und die riesigen, nachtschwarzen Fenster im Erdgeschoss. Das ganze große Gebäude schien in tiefer Finsternis zu liegen, was sehr merkwürdig war - und sehr beängstigend. Nachts wurden immer einige Lampen angelassen. Wo war das Personal? Und war William nicht zu Hause, und vielleicht auch Margaret?
Alex saß neben ihr im Beifahrersitz, den Kopf im Nacken, die Augen geschlossen.
Es war fast Mitternacht. Jill war noch nie so erschöpft gewesen, aber ein Bett war das Letzte, woran sie jetzt dachte. Lucinda war tot, man hatte sie ins Leichenschauhaus in Scarborough gebracht. Sie war mit dem Mercedes der Sheldons zu Coke’s Way gefahren, und ihr Auto stand noch in der Auffahrt vor der Residenz. Alex’ Schussverletzung war im Krankenhaus von Scarborough verarztet worden. Und sie beide hatten bei der örtlichen Polizei ihre Aussagen gemacht.
Sie sah ihn an, und ihr graute davor, hineinzugehen.
Zu ihrer Überraschung schlug er die Augen auf und schenkte ihr ein schwaches Lächeln. Sie hatte geglaubt, er schlafe tief und fest.
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Er sah entsetzlich aus. Sein Gesicht hatte immer noch eine gespenstisch graue Farbe, außerdem zierten es nächtliche Bartstoppeln, und er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Sein rechter Oberkörper lag unter einem Verband, der rechte Arm in einer Schlinge.
Hemd und Hose waren voll getrocknetem Blut. »Du siehst aus wie ein fieser Drogendealer«, sagte Jill, um ihn aufzuheitern. Aber eigentlich hätte sie ihn am liebsten in die Arme genommen und geweint.
Seinetwegen.
Er lachte. Kurz, aber echt. Dann wurde er ernst.
»Ich fühl mich beschissen. Diese Schmerztabletten sind das Letzte.«
Jill verzog das Gesicht. »Du solltest zwei davon nehmen.«
»Ich muss einen klaren Kopf
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