Kates Geheimnis
feucht. »Etwa vor einem Jahr hat 189
Hal mir erzählt, dass er Briefe gefunden habe, Briefe von Kate an Anne.«
Jill ließ fast den Hörer fallen. »Oh mein Gott.
Haben Sie sie gelesen?«
»Nein. Ich habe sie nie zu Gesicht bekommen.
Eigentlich bin ich nicht einmal sicher, ob es sie überhaupt gibt«, sagte sie vorsichtig. Jill sprang auf.
»Was meinen Sie damit? Ich verstehe das nicht.«
Wieder zögerte Lucinda. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das sagen soll. Ich weiß nicht einmal, ob ich es Ihnen überhaupt erzählen sollte.« Sie sprach nicht weiter.
Jill spürte Entsetzen in sich aufsteigen. »Was auch immer Sie sich denken, Lucinda, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie es mir sagen würden. Ich muss wissen, was Hal vorhatte.« Erst nachdem die Worte heraus waren, fiel ihr auf, welche komische Formulierung sie da verwendet hatte.
»Also schön. Er hat versprochen, mir Kopien der Briefe zu schicken, er hat es sogar mehrmals versprochen, aber er hat sie nie geschickt.«
»Aber Hal war kein Lügner«, sagte Jill langsam, sehr verwirrt. »Er würde sich so eine Geschichte nicht einfach ausdenken.«
»Jill, als er mich angerufen hat, um mir zu erzählen, dass er die Briefe gefunden habe, war es fast Mitternacht. Er redete ziemlich ... wirr.«
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Jill umklammerte den Hörer. Ihr Herz machte wilde Sprünge. »Wirr.«
»Man soll ja nicht schlecht über Tote sprechen.
Aber ich muss sagen, er klang betrunken, meine Liebe, sogar sternhagelvoll, um genau zu sein ... «
Jill brauchte einen Moment, bis sie verstand. »Sie glauben, er war betrunken?«, keuchte sie.
»Er redete wirres Zeug«, sagte Lucinda bestimmt.
»Ich weiß nicht, wie ich das sonst deuten soll.«
Jill war wie gelähmt. »Lucinda, wenn er diese Briefe gefunden hat, haben Sie irgendeine Ahnung, wo er sie gefunden haben könnte - oder wo er sie aufbewahrt hat?«
»Nein. Aber sie wären absolut unbezahlbar - für uns und für die Familie. Er hätte sie an einem sehr sicheren Ort aufbewahrt. Hier in Uxbridge Hall sind sie jedenfalls nicht. Vielleicht hat er sie bei sich versteckt.«
Jill starrte vor sich hin und sah vor ihrem inneren Auge Hal mit alten Briefen in der Hand. »Das könnte sein. Was, wenn sie in seinem Apartment hier in New York sind?«
»Wenn Sie sie finden, sagen Sie mir Bescheid. Sie gehören nach Uxbridge Hall«, sagte Lucinda. »Wir müssten die Originale bekommen.«
Jill versprach es ihr. Die beiden unterhielten sich noch ein paar Minuten, und Lucinda versprach, sie morgen wieder anzurufen, wenn sie mit ihrem 191
Nachbarn Allen Henry Barrows gesprochen hatte.
Dann legte sie auf. Jill fühlte sich wie betäubt. Hal war von Kate und Anne fasziniert gewesen; Kate hatte an Anne geschrieben. Und Hal war sturzbetrunken gewesen, als er Lucinda angerufen hatte, um ihr davon zu erzählen.
Nein. Jill entschied, dass Lucinda sich geirrt haben musste. Hal hatte sein Drogenproblem überwunden.
Sie hatte ihn in den ganzen acht Monaten niemals Alkohol trinken oder Drogen nehmen sehen. Lucinda irrte sich.
Jill fühlte sich nicht eben erleichtert. Erst Marisa und nun das. Vielleicht hatte Thomas Recht.
Vielleicht hatte sie Hal nicht so gut gekannt, wie sie geglaubt hatte.
Hal hatte eine Wohnung an der Fifth Avenue bewohnt, zu der Jill noch Schlüssel besaß. Der Portier erkannte sie und lächelte.
Das Apartment lag im zwanzigsten Stock. Es war hell und sonnig mit Blick auf den Park. Jill war seit seinem Tod nicht mehr hier gewesen. Sie blieb im Wohnzimmer stehen, ohne die Aussicht auf den Park und die West Side eines Blickes zu würdigen. Sie fühlte sich an diesem Ort schrecklich elend.
Sie musste unbedingt diese Briefe finden. Aber sie war wie gelähmt. Hal schien hier überall gegenwärtig zu sein.
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Jill schloss die Augen. Hatte er sie geliebt? Oder Marisa? Was, wenn er auf irgendeine bizarre Art und Weise Kate geliebt hatte?
Sie würde niemals vergessen, was er gesagt hatte, als er an jener Straße sterbend in ihren Armen lag.
»Ich liebe dich ... Kate.« Als er im Sterben lag, hatte er sie mit einer anderen Frau verwechselt, einer Frau, die, wenn sie überhaupt noch lebte, über neunzig Jahre alt sein musste.
Nein. Das war unmöglich. Aber warum hörte sie ständig diese leise, flüsternde Stimme in ihrem Kopf eine Litanei aufsagen, die Jill mittlerweile regelrecht hasste? Hal und Jill ... Jill und Kate ... Kate und Hal ...
Jill schob diese beunruhigenden Gedanken beiseite und ging steif in das Zimmer,
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