Kates Geheimnis
keiner der Banken, mit denen er üblicherweise Geschäfte gemacht hatte, ein Schließfach gehabt.
Lucinda drehte sich um und betrachtete sie. »Er scheint ein sehr netter Mann zu sein. Auf jeden Fall ist er sehr hilfsbereit.«
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»Ich weiß nicht, was ich von Alex Preston halten soll.« Jill zögerte. »Lucinda, glauben Sie, dass er diese Briefe gelöscht haben könnte?«
Lucinda machte große Augen. »Warum sollte er so etwas tun?«
Jill stellte zwei Becher, ein Kännchen Milch und eine Zuckerdose auf den Tisch. »Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr zweifle ich. Kate war Annes Gast, und sie wurde schwanger. Sie haben eben selbst gesagt, dass, falls jemand Verdacht geschöpft hätte, sie aus der Gesellschaft ausgestoßen worden wäre.
Berichtigen Sie mich, wenn ich mich irre. Eine junge, unverheiratete Mutter wäre in diesen Tagen mehr als ein Riesenskandal gewesen - eine unannehmbare Tragödie.«
»Ja, es wäre eine Tragödie gewesen. Kate war in dem Moment ruiniert, in dem sie schwanger wurde.
Sie tut mir so Leid - ich hatte ja keine Ahnung, bis ich den Brief gelesen habe.«
»Also, das ist eine Leiche im Keller der Collinsworths, nicht wahr? Und Alex’ Nachname mag zwar Preston sein, aber er ist durch und durch ein Sheldon.«
Lucinda schwieg. »Ich hoffe, Sie irren sich, Jill.
Das hoffe ich wirklich. Außerdem hat jede alte britische Familie nicht nur Leichen im Keller, sondern es gehen auch noch allerhand Geister um -
und wir sind alle an diese morbide Seite unserer Geschichte gewöhnt. Wir finden sie sogar aufregend.
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Ich kann mir nicht vorstellen, warum Alex Preston alte Briefe vernichten sollte, die für die Familie von historischem Wert sind.«
»Vielleicht haben Sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Alex ist Amerikaner und denkt da anders.
Vielleicht glaubt er, seine Familie auf diese Weise schützen zu müssen.«
»Ach, du meine Güte«, sagte Lucinda.
»Ich hoffe auch, dass ich mich irre«, meinte Jill schließlich. »Es gibt noch eine Möglichkeit.«
»Ja?«
»Ja.« Jill sah Lucinda in die Augen. »Vielleicht hat Thomas sie gelöscht. Ich wette, er ist auch nicht scharf darauf, dass irgendeine Leiche zum Vorschein kommt.«
Jill starrte aus einem Fenster auf die Straße hinaus; einige Fußgänger und ein Wagen kamen an ihrem Haus vorbei. Alex hatte versprochen, sie um halb acht abzuholen, weil er nicht früher aus dem Büro wegkam. Er verspätete sich. Es war Viertel vor acht, und draußen wurde es schon dunkel.
Dann hörte sie einen PS-starken Motor. Sie schob den Vorhang ein wenig beiseite und riss die Augen auf, als sie Alex aus einem sehr rassigen, sehr schnittigen silbernen Sportwagen steigen sah.
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Er trug einen einreihigen dunkelgrauen Anzug und ein sehr gewagtes pinkfarbenes Hemd mit blauer Krawatte. Er sah sie und lächelte.
Jill wurde rot, ließ den Vorhang los und trat zurück.
Sie wünschte, er hätte sie nicht dabei ertappt, dass sie wie ein aufgeregtes Mädchen vor ihrer ersten Verabredung durch die Vorhänge linste.
Sie drehte sich um, schlüpfte in ihre schwarze Lederjacke und schnappte sich ihre Umhängetasche.
Sie trug ein weißes T-Shirt und einen langen, gerade geschnittenen schwarzen Jersey-Rock. Sie öffnete die Tür, bevor er anklopfen konnte, und stand ihm plötzlich gegenüber.
»Tut mir Leid, dass ich mich verspätet habe. Es gab ein kleines Problem in der Firma.« Er lächelte sie an.
Jill lächelte knapp zurück. »Schon okay. Ich danke dir, dass du mich überhaupt abholst und zu den Sheldons bringst.« Sie schloss die Tür ab.
»Das ist ja vielleicht ein Schloss. Mit verbundenen Augen würde ich das aufkriegen«, bemerkte Alex.
»Eine deiner vielen Fähigkeiten?«
»Als Junge hatte ich so einige Tricks drauf.«
Jill starrte ihn an. »Was soll das heißen?«
»Ich war ein Straßenkind, ein kleiner Gangster. Ich hab zu meiner Zeit so manches Schloss geknackt.« Er grinste.
»Du hast Leute beklaut?«
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»Nur so hier und da was mitgehen lassen.«
»Und wie alt warst du damals?«
»Acht, neun, zehn. Meine Mutter hat immer sehr lange gearbeitet. Ich war das typische verwilderte Kind.« Alex nahm ihren Ellbogen, als sie zu seinem Wagen gingen.
Jill sah ihn von der Seite an. Er hätte jetzt genausogut in irgendeiner Fabrik schuften, nach der Arbeit Bier trinken und Pool spielen gehen, in einer billigen Mietskaserne wohnen können; stattdessen war er ein Manager in einem Tausend-Dollar-Anzug, der ein Auto fuhr, das sicher
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