Kates Geheimnis
leicht gerunzelten Brauen an. »Was tun Sie hier?«
Jill war nicht sicher, ob das eine Anschuldigung sein sollte. Sie suchte fieberhaft nach einer plausiblen Erklärung. Sie hatte ihm nichts von den Briefen 307
erzählt, aber Alex wusste davon - und sie hatte sie auch Margaret gegenüber erwähnt. Es war äußerst wahrscheinlich, dass er den wahren Grund für ihren Besuch ohnehin bald erfahren würde. »Alex hat mich hergebracht. Wir haben ein paar Briefe gesucht, die Kate an Ihre Großmutter Anne geschrieben hat, bevor sie verschwand.«
Eine lange Pause folgte. »Ich verstehe.« Er deutete ein Lächeln an. Jill fand, er sah erschöpft und müde aus. »Sie sind immer noch auf Geisterjagd.«
»Ja.« Jill rechtfertigte sich nicht.
»Kommen Sie herein.« Er deutete zum
Wohnzimmer. »Möchten Sie vielleicht etwas trinken, während Sie warten?«
Jill zögerte überrascht. Er verhielt sich nicht besonders warmherzig, aber auch nicht feindselig, und er hatte eigentlich keinen Grund, ihr einen Drink anzubieten. »Vielleicht sollte ich hier auf Alex warten«, begann sie.
»Ich beiße nicht«, sagte er abrupt. Und er lächelte sie wieder leicht an.
Ihre Blicke trafen sich. »Also gut«, gab Jill nach.
Der Wunsch, etwas zu trinken - zu fliehen, zu vergessen, sich zu entspannen , hatte gesiegt.
Er winkte sie hinein. »Was hätten Sie denn gern?
Scotch? Gin? Wodka?«
Jill trat näher, sie war schon etwas ruhiger. »Ein Glas Wein?« »Rot oder weiß?«
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»Weiß.«
Er ging zum Buffet und öffnete eine der Türen, hinter der ein eingebauter Kühlschrank zum Vorschein kam. Er nahm eine Flasche Wein heraus, entkorkte sie und goss ihr ein Glas ein. Es war ein Pouilly-Fussé, und als Jill daran nippte, fand sie ihn eiskalt und köstlich.
»Ich war überrascht, Sie hier zu sehen«, sagte Thomas schließlich. »Etwa so überrascht wie ich, Sie wiederzusehen«, gab Jill zurück. »Ich wohne hier.«
»Aber Sie sehen eher wie ein Mann aus, der seine Abende mit ein, zwei Models in einem schicken Clubrestaurant verbringt.«
Er lachte. »Da komme ich gerade her. Wo ist mein genialer Cousin?«
»Er hat Ihre Mutter auf ihr Zimmer begleitet.« Jill hörte, wie .sich ihre Stimme veränderte, unsicher wurde.
»Warum?«
Jill vermied es, ihm in die Augen zu sehen. »Wir haben in Hals Schlafzimmer nach den Briefen gesucht. Ihre Mutter hat uns über rascht. «
Thomas’ Gesichtsausdruck verfinsterte sich. Rasch sagte Jill: »Ich habe mich entschuldigt. Es tut mir wirklich Leid. Das Letzte, was ich will, ist Ihrer Familie noch mehr wehzutun.«
»Mutter geht es nicht gut«, stellte Thomas fest. Er sah Jill nicht an. Seine Hand schloss sich so fest um 309
sein Glas, dass die Knöchel weiß wurden. »Erst neulich hat sie wieder über Herzrasen geklagt. Sic nimmt Medikamente, und morgen sollen eine ganze Reihe Untersuchungen gemacht werden.«
»Das wusste ich nicht.« Jill rührte sich nicht. Was, wenn Hals Mutter etwas zustieß? Erst Hal, dann Margaret? Alles wäre Jills Schuld.
»Was hat Sie wieder nach London geführt?«, fragte Thomas.
Thomas war der Letzte, der ihre wahren Gründe dafür erfahren würde. Trotz seiner augenblicklichen Höflichkeit würde sie niemals vergessen, wie feindselig er sie bei ihrer ersten Ankunft in London empfangen hatte. »Es hat einfach zu sehr wehgetan, in New York zu bleiben.«
»Aber warum kommen Sie ausgerechnet hierher?«
»Ich hüte die Katzen eines Freundes«, sagte Jill. Sie zögerte und fügte dann hinzu: »Und ich kann nach Kates Briefen an Anne suchen.«
Er nickte. »Es tut mir Leid, aber dafür habe ich kein Verständnis. Hat sich Mutter sehr aufgeregt, als sie Sie gesehen hat?«
Jill errötete und nippte an ihrem Wein. »Wir hätten nicht abends kommen sollen, wenn Ihre Eltern zu Hause sind.«
Er starrte sie an. Seine Miene war schwer zu interpretieren. »Ich
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bemühe mich immer, meine Familie zu schützen.
Das ist meine Pflicht. «
Wieder nahm Jill einen Schluck Wein und senkte den Blick. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Pflichtgefühl ist etwas sehr Lobenswertes. Bei uns in den Staaten macht sich niemand viele Gedanken über seine Pflichten.«
»Ich bin meines Vaters Erbe«, antwortete er schlicht, als würde das alles erklären. Nach einer Pause fügte er gequält hinzu: »Als Amerikanerin halten Sie mich wahrscheinlich für altmodisch. Aber der Stammbaum der Collinsworths reicht Hunderte von Jahren zurück - fünfhundertzweiundsiebzig, um genau zu
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